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Wenn die anderen zu den einen werden

„Mein Ziel ist, dass ich nichts vermisse“, sagt Guang einige Tage vor dem Haftantritt. Ihre Mutter redet nicht mehr mit ihr, allerdings kann sich die Buddhistin auf den Rat ihres Meisters verlassen. “Man muss das Universum nicht verstehen, genauso wie man ein totes Schwein nicht verstehen muss!“ In den Tagen vor dem Antritt wirkt sie total strukturiert und springt von einem Termin zum nächsten. Der Mietvertrag muss aufgelöst, die Freund*innen verabschiedet und die Arbeit als Business-Chinesisch-Lehrerin eingestellt werden. Die vier Jahre Gefängnis würden ihr guttun, da ihre Unruhe und ihr Ehrgeiz zu groß waren. Darf sie eigene Kosmetik-Artikel ins Gefängnis mitnehmen? Und wie ist das mit dem Besuchsrecht?

Im Laufe des Films Die Frist, welcher am zweiten Tag des diesjährigen PolitFilmFestival im Leokino gezeigt wurde, lernten die Zuschauer*innen neben Guang auch noch zwei weitere Protagonisten kennen. Der gesundheitlich angeschlagene Jürgen muss aufgrund von Drogenhandel über drei Jahre ins Gefängnis – ihm scheint das aber nicht allzu nahe zu gehen. Während er in seiner Erdgeschoßwohnung eine Pizza vom Bügelbrett isst, sagt er „Das passt schon. Und was nicht passt wird passend gemacht.“ Auch er wirkt mitgenommen und erschöpft von den vielen Terminen beim Anwalt, sowie vom Ausräumen der Wohnung.

Dem meisten psychischen Stress scheint allerdings der Familienvater Vitali ausgesetzt zu sein. Am Tag seines Haftantrittes hat er sein Unternehmen noch nicht aufgelöst und weitere organisatorische Schritte noch nicht gesetzt. Eine Stunde vor Ablauf der Frist erhält er den Anruf seines Anwalts, dass er doch noch einige Wochen frei sein wird. Den Kindern erklärt er, dass er weit entfernt arbeiten muss, seiner Frau geht das alles emotional sehr nahe. Vitalis Worte: „Ich will die Strafe annehmen, das Kapitel beenden und nie wieder darüber sprechen.“

Ein kaputtes System

Die Vorstellung, dass die Polizei eine*n am Tag, an dem die Frist abläuft, abholen kommt und man dann plötzlich hinter Gittern hockt, wird durch den Film von Karin Becker zerstört. Die Straftäter*innen müssen unglaublich viel in den Wochen und Tagen davor erledigen, gehen durch einen langen Prozess der emotionalen Instabilität und wenden dafür sehr viel Kraft auf. Kraft, die stattdessen in die Reflexion und Aufarbeitung der Straftat gesteckt werden könnte. Wenn Vitali das Kapitel schon vor Haftantritt für beendet erklärt und gleichzeitig erzählt, dass ihn keine Schuld trifft, dann weist das auf fehlendes Auseinandersetzen mit der Tat hin. Auch Guang und Jürgen verstricken sich in Euphemismen über ihre Taten und möchten nicht darüber sprechen. Alle drei sind sich unsicher wofür genau sie Verantwortung übernehmen sollen – sie entwickeln einen Abwehrmechanismus.

Der Fehler liegt allerdings nicht nur bei ihnen. Wenn die Gesellschaft mehr zwischen schwereren Tatbeständen und Straftaten wie die der Protagonist*innen unterscheiden würde, dann könnten gezieltere Strafen verhängt werden und Schuldeingeständnisse sowie Verantwortungsübernahme bei den Täter*innen einhergehen. Zu diesem Schluss kommt auch das Podium am 2. Tag des PolitFilmFestival. Der Kriminologe und ehemalige Haftanstaltsleiter Thomas Galli und die Leiterin des Vereins Neustart Tirol Kristin Henning diskutierten unter der Moderation von Margret Aull. Das Podium kam zum Schluss, dass das momentane System, wie Freiheitsstrafen verhängt werden, dringend geändert werden muss. Henning und Galli zeigten Alternativen auf, wie etwa den Hausarrest oder den offenen Vollzug. Beim offenen Vollzug können die Häftlinge zum Beispiel trotzdem arbeiten gehen und haben insgesamt mehr Freiheiten. Als modernes, liberales Beispiel wird unter anderem die Haftanstalt Bastoy in Norwegen genannt. Gleichzeitig kam in der Diskussion die Frage des Milieus von Straftäter*innen auf. Haftstrafen würden häufig zu keiner Verantwortungsübernahme führen, vor allem wenn sich in der Zwischenzeit nichts in den Herkunftsmilieus ändert, in die die Straftäter*innen danach zurückkehren, so Galli. Wie so oft scheinen allerdings die finanziellen Ressourcen von staatlicher Seite zu gering zu sein – mit mehr Geld für Gefängnisse lasse sich halt nicht gut Wahlkampf betreiben. Es lässt sich stark bezweifeln, dass sich das aktuelle System rund um Gefängnisse und die Freiheitsstrafe in Österreich in den nächsten Jahrzehnten ändern wird, allerdings ist es wichtig, das Thema zu diskutieren und auf die Probleme des Systems, sowie der Straftäter*innen aufmerksam zu machen. Genau das geschieht durch Die Frist – vielleicht gelangt die Diskussion ja eines Tages in den Nationalrat oder in die Parteigremien.

Das Podium v.l.n.r.: Thomas Galli, Margret Aull, Kristin Henning Foto: Alena Klinger

Anmerkung der Redaktion: Der Autor war freiwilliger Helfer beim PolitFilmFestival.

Beitragsbild: Die Frist

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