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Das politische Potential von Liebe – ein Annäherungsversuch

”May we dedicate our love to each other, more than humans, the world. Love is beyond rationality and order. This is how we win a better tomorrow. When we see ourselves as intertwined with the rest of the world, here for something bigger than what we might have been taught to follow, here for heart-full and heart-ache. And may this love pull in individuals, also those who disagree, whilst being strong enough against the values they might carry that stand in the way of justice, and create new ways in dealing with this.“ @treesnpeace auf Instagram (04.01.2022)
„Literatur erzählt die Liebe als symbolisches und metonymisches Geschehen; sie erzählt die Liebe als Narration und Konstruktion (im Plural) und sie erzählt von kulturellen Erzählungen, die Vorstellungen und Handlungen der Liebenden prägen.“ (Schwens-Harrant und Seip 2019: 21f.)

Ungefähr achtjährig sitze ich auf dem Fliesenboden am Terrassenfenster, während es draußen regnet. Ich beobachte, wie die Tropfen an den Scheiben herunterlaufen. Ab und zu lehne ich meine Stirn an das kalte Glas und genieße das angenehm kühle Gefühl, das sich in meinem Kopf ausbreitet. Vor mir liegt ein kleines Buch, dessen Einband aus schimmerndem Stoff besteht, die Ecken mit braunem Kunstleder überzogen. Ich nehme es zur Hand und schreibe hinein, was mich beschäftigt, was aus einem dumpfen Schmerz dort, wo mein Herz ungefähr verortet ist, zu kommen scheint. Ich frage mich, weshalb Menschen sich gegenseitig Schlimmes antun, obwohl sie alle Liebe kennen. Das Gefühl von Zuneigung, Sorge und Wertschätzung. Weshalb können sich nicht alle gegenseitig wertschätzen und respektieren? Diese Gedanken versuche ich anhand der Beispiele von Krieg und Atomkraft ein wenig zu konkretisieren. Davon habe ich vor Kurzem in der Schule oder von meinen Eltern gehört. Ich kann mir die Irrationalität dieser Phänomene nicht erklären. Unter meinen Text male ich ein großes Peace-Zeichen und lasse darum Blumen wachsen. 

Schwens-Harrant und Seip zufolge bildet die Erzählung die Existenzgrundlage von Liebe. Ohne, dass Liebe in Narrationen jeglicher Art unentwegt konstruiert wird, gibt es sie nicht. Dieses scheinbar so komplexe Gefühl ist demnach keines, sondern besteht lediglich aus mehreren einzelnen Gefühlen, die unter Einfluss kultureller und sozialer Gegebenheiten zutage treten und entsprechende Handlungsmuster hervorrufen.  

Die Dekonstruktion von Liebe, die Entlarvung der Formbarkeit des Begriffs bedeutet indes, dass neue Assoziationsketten gebildet werden können. Liebe muss nicht Ehe, muss nicht Monogamie, Eroberung, Hingabe oder gar Selbstaufgabe, Grenzenlosigkeit und Erziehung bedeuten. Sie muss ebensowenig nur entweder platonisch oder romantisch ausgelebt werden. Der Philosophie Lexikon-App auf meinem Mobiltelefon zufolge „erschließt [Liebe] als geistsinnlicher Totalakt des Menschen Personen, auch die eigene, und nichtpersonales Seiendes als wert und würdig, um seiner selbst Willen da zu sein.“ Von dieser Idee, ungeachtet der Normierungen, denen die Dominanzgesellschaft den Begriff der Liebe unterzieht, geht auch das melancholische Kind am verregneten Fenster aus. 

In meiner Jugend, also circa acht Jahre später, hängt ein Banner aus meinem Zimmerfenster heraus, auf dem die Worte Liebe ist linksgeschrieben stehen. Zwischen ihnen und dem dumpfen, schwer lokalisierbaren Schmerz, den schon mein achtjähriges Kinderherz spürte, gibt es eine Verbindung. Mir erscheint es nach wie vor vollkommen paradox, dass Menschen, die, wie alle, Familie und Freund*innen haben oder andere wichtige zwischenmenschliche Beziehungen pflegen, einander mit Feindlichkeit, Gewalt und Ignoranz gegenüberstehen können. 

In ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist zitiert Şeyda Kurt die Soziologin Eva Illouz, derzufolge romantische Auffassungen von Liebe im Kapitalismus gänzlich von diesem geprägt seien. Etwas später schreibt Kurt: „Genauso wie es in rassistischen oder sexistischen Gesellschaften keine Gerechtigkeit geben kann, gibt es auch keine Gerechtigkeit im Kapitalismus, solange Menschen sich als Konkurrierende statt Verbündete begegnen, als Besitz und Besitzende, als herrschende und beherrschte Körper“ (Kurt 2021: 198). Liebe, beziehungsweise die Verhältnisse, die wir zueinander pflegen, ist ein möglicher Ansatzpunkt für den Versuch, die von Illouz und Kurt dargelegten Strukturen zu unterwandern. Gemeinsam können wir aufeinander achten, Solidarität und Kommunikation üben. Wir können einander Raum geben und uns dabei unterstützen, Klarheiten zu schaffen. Raum geben bedeutet Offenheit, die sowohl einladend ist als auch Platz lässt, wenn es angebracht ist. Solch geduldige und offene Liebe kann im Kleinen gelebt werden; sie kann jedoch auch nach außen getragen werden und weiträumiger das Leben durchdringen. Gut möglich, dass sich diese beiden Optionen gegenseitig befördern. 

Liebe ist, wie sich mittlerweile abgezeichnet hat, durch und durch politisch. Sie ist von politischen Verhältnissen durchdrungen und kann diese – zumindest in meinen Wunschvorstellungen – gleichzeitig mit viel Vehemenz beeinflussen. Şeyda Kurt merkt an, Beziehungen seien „keine luftleeren Räume. In Beziehungen begegnen und berühren sich Körper, in die sich die Spuren der Gewalt eingeschrieben haben und wie ein unbelichtetes Negativ einprägen“ (Kurt 2021: 107). Unter diesem Blickwinkel ist es überaus wichtig, sich der Gesellschaftsstrukturen und der ihnen immanenten hierarchischen Verhältnisse sowie der Privilegien, die sich daraus ergeben, bewusst zu sein und dieses Bewusstsein in unsere Interaktionen einfließen zu lassen. Wie Kurt richtig aufzeigt, kann offen polygam zu leben für unterschiedliche Menschen verschiedenes bedeuten: „Während sich weiße Menschen als cool oder revolutionär preisen können, müssen muslimische oder Schwarze Menschen etwa fürchten, rassistische Stereotypien unfreiwillig zu bestätigen“ (Kurt 2021: 73). Genauso ist es ein Privileg, nicht über den politischen Aspekt von Liebe beziehungsweise Beziehungen nachdenken zu müssen, geschweige denn über die zeitlichen Kapazitäten für die tiefschürfende Auseinandersetzung und Arbeit mit und in selbstbestimmten Beziehungsformen zu verfügen (Kurt 2021: 112).

Anfang 2022 stoße ich auf einen Instagram-Beitrag von Josephine Becker (@treesnpeace, s.o.), in dem sie von Liebe und Gerechtigkeit, von gerechter Liebe, von Gerechtigkeit durch Liebe spricht. Es fühlt sich an, als spreche sie mir aus dem Herzen. In meinem Kopf formt sich die Idee, einen Essay über dieses Thema, das mich scheinbar unaufhörlich begleitet, zu schreiben. 

Es stellt sich ganz von selbst heraus, dass Liebe omnipräsent ist. In all unseren Beziehungen, die einen grundlegenden Teil unserer Existenz darstellen, spielt sie eine Rolle. Das so komplex scheinende Konzept der Liebe – kann mensch sie fühlen? Was ist das? – ist letztendlich nur so kompliziert, wie wir es gestalten. Denn lieben wir so, wie wir möchten, lieben wir respektvoll, solidarisch, können neue Erzählungen entstehen (vgl. Schwens-Harrant und Seip) und damit neue Umgangs- und Handlungsformen. Liebe bietet Raum und Schutz. Sie ist einladend und bietet gleichzeitig Rückzug. Sie kann entwaffnend wirken. Sie bedeutet Signifikanz und Kraft.

Newroz Duman und Niki Kubaczek konkretisieren den Aspekt der politischen Bedeutung von Gemeinschaft – die es ohne jegliche Liebe nicht geben kann – in ihrem Artikel Es ist nicht meine Revolution, wenn wir keinen Çay zusammen trinken können noch etwas. Sie berichten über die Arbeit und Motivation von Aktivist*innen in einer ZAD (Zone à Défendre) in Nantes 2019. Im Juli 2019 wurde dort das sogenannte Transborder Camp abgehalten, bei dem unzählige Aktivist*innen unterschiedlicher Hintergründe und Länder (v.a. aus Europa und Afrika) zusammenkamen, um den geplanten Flughafenbau zugunsten des Umwelt- und Klimaschutzes aufzuhalten. Folgendes ließ sich aus dem Erlebten schließen: „Die Betonung von sozialen Beziehungen unter Ungleichen ist viel mehr als nur Hippie-Scheiß, denn ‚wenn wir keine Beziehungen aufbauen, können wir auch nicht der Repression begegnen‘, wie eine Aktivistin am ersten Tag des Camps betonte“ (Duman und Kubaczek 2020).

Um dem unerklärlichen Übel, das die menschliche Gesellschaft in so unterschiedlichen Ausprägungen aufweist, zu begegnen, braucht es Zärtlichkeit, um auf Kurts Terminologie zurückzugreifen. Denn, so Duman und Kubaczek, „[d]ie Bedingung der Revolution ist der Wunsch nach ihr, und dieser Wunsch kann nur als gemeinsamer, jeweils eigener, also geteilter Wunsch stattfinden. Ohne Vernetzung auf Augenhöhe weder Revolution noch Revolte oder Aufstand.“ 

So bedeutet Liebe auch Trotz und Verantwortung zu übernehmen. Şeyda Kurt nimmt das als Leitfaden für ihr Handeln, indem sie anerkennt, „dass das Private politisch ist,“ wodurch „jede Freund*innenschaft und jede Beziehung zu einer politischen Allianz [wird].“ (Kurt 2021: 197)

Ich hoffe, in diesen Absätzen aufgezeigt haben zu können, wie vielfältig und wichtig das Potential dieses so schwer greifbaren Konzepts der Liebe ist. Beginnen wir also.    


Literatur:

Becker, Josephine. 03.01.2022. instagram.com/treesnpeace (Letzter Zugriff: 17.01.2022)

Duman, Newroz und Kubaczek, Niki. Es ist nicht meine Revolution, wenn wir keinen Çay zusammen trinken können. Skizzen einer Politik antirassistischer Freund*innenschaft und der Kampf um die Augenhöhe unter Ungleichen. AK 659: 21. April 2020. https://www.akweb.de/bewegung/es-ist-nicht-meine-revolution-wenn-wir-keinen-cay-zusammen-trinken-koennen/ (Letzter Zugriff: 17.01.2022)

Kurt, Şeyda. Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist. 3. Auflage. Hamburg: HarperCollins, 2021.

Motyl, Marco. Philosophie Lexikon. Flame Development. (Letzter Zugriff: 17.01.2022)

Schwens-Harrant, Brigitte und Seip, Jörg. Mind the gap. Sieben Fährten über d’as Verfertigend von Identitäten. Wien: Klever Verlag, 2019. 

Titelbild: Privat

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