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Die Stühle – Theater im Wandel

„Die Stühle“ von Eugène Ionescos von 1951 gilt als ein Klassiker des französischen absurden Theaters. Es beschreibt die Suche nach einer Antwort auf eine Frage, die man kaum formulieren kann. Die Frage nach dem Sinn des Lebens, der Rettung der Menschheit – eingebettet in eine absurde Dramaturgie. Die Regisseurin Edith Hamberger wählt zu diesem Zweck eine Bühne, die das Eingeengtsein in der Leere, die Einsamkeit von zwei Personen darstellt. Sie haben ihr Leben gemeinsam und doch aneinander vorbeigelebt, sie haben es, wie sie es nennt, „verlebt“.

Ein in die Jahre gekommenes Ehepaar lebt abgeschottet in einem Turm, umgeben von fauligem Wasser. Sie treiben in den stetig gleichen Gesprächen und Geschichten aus ihrem Leben. Die Frau, Semiramis bedauert verpasste Berufschancen ihres Mannes Poppet. Stets wirft sie ihm vor, er hätte Chef-Marshall oder Chef-Koch, sogar Chef-Kaiser werden können. Er ist jedoch nur Pförtner und richtet seine jetzige Energie auf eine Idee: die Botschaft, die er der Welt noch offenbaren möchte. Dazu lädt er einen professionellen Redner ein, der für ihn die richtigen Worte finden soll, sowie unzählige Gäste, die nach und nach eintrudeln. Während die früh Erscheinenden noch in Gespräche verwickelt werden, wird die Beschaffung weiterer Stühle als Sitzgelegenheiten durchwegs drängender. Dies begleitet ein sukzessive schriller und lauter werdendes Klingeln an der Haustüre, durch welche die Geladenen hereinströmen. Man sieht Semiramis stapelweise Stühle herbeischaffen, ächzend – letztendlich fällt sie mitsamt den Stühlen und zerzausten Haaren mitten in den Raum hinein. Als nach bereits einer Stunde Spielzeit der Redner erscheint, kommt es zum Gipfel des Absurden dieses Theaterstückes. Mit den Charakteren befindet sich auch das reale Publikum zunehmend in der Erwartung dieser Aufklärung. Das Ehepaar, der Erfüllung ihres Lebenszwecks sicher, springt aus dem Fenster in den sicheren Tod, denn sie glauben ihr Vermächtnis der Botschaft gesichert. Der Redner öffnet zwar den Mund, doch er ist stumm. Er soll die Spannung des Stückes und die im Raum stehende Frage auflösen – und dabei bleibt es komplett still. Er wechselt die Taktik und schreibt sie auf eine Tafel auf, und erneut wird die Erwartung enttäuscht, denn die Buchstaben ergeben keinen Sinn …  

Die Inszenierung zeigt sich ebenso abstrakt wie publikumsnah. Im Laufe des Stücks werden die Zuschauenden zunehmend in die Kulisse hineingezogen. „Im klassischen Theater gibt es eine Trennung von Raum und Bühne. Unsere Darstellung aber soll den Zuschauenden so abholen, dass er*sie Teil von dem Ganzen wird. Wir haben auch mit der Geräuschkulisse und den Tüchern, die Vorhänge oder auch das Meer sein können, gespielt, um den Ort zu kreieren.” Auch er wird während des Stücks durch die Regieführung durchbrochen, erklärt die Regisseurin Edith Hamberger. “Man kann sich an nichts richtig festhalten.“ Die Stuhlreihen, welche die Schauspieler, und hauptsächlich Semiramis, im Laufe des Stückes aufstellen, wandeln sich zu einer Verlängerung der Publikumsreihen. Somit blickt man gemeinsam mit den Unsichtbaren gespannt auf den Redner, der erwartet wird. Die imaginären Gäste fügen sich zu einem Abbild der Gesellschaft. So fragt Semiramis ihren Poppet, ob er auch die Päpste, die Papageien eingeladen habe, die Künstler und Beamten, die Schönheit und gar die Chromosomen. Zu ihrer beider Überraschung erscheint schließlich auch der Kaiser als das ultimative Machtsymbol. Er und alle übrigen sind dem Anschein nach versammelt, das Publikum sieht jedoch nur die zwei Schauspieler, die sich zunehmend durch die inzwischen gewaltige Menge an imaginären Personen kämpfen. Der Autor Eugène Ionescos hat das Stück, wie er sagt, absichtlich weitmöglichst für Interpretationen offengelassen. Um allen im Publikum dieselbe Erfahrung der Aufführung zu ermöglichen, verzichten sie auch auf eine großzügige Bestuhlung – für „Die Stühle“ sind nur 35 Zuschauerplätze aufgestellt.

Semiramis ist, so Darstellerin Alica Sysoeva, zu Beginn eine verlorene Seele. „Sie hat ihren Liebling, der aber in ihren Augen nie vollkommen gewesen ist. Letztendlich aber zählt für sie nur, dass sie ihn hat und sich um ihn sorgen kann. Im Laufe des Stücks merkt man, wie sie immer die Aufgaben übernommen hat und wie stolz sie auf ihren Poppet ist. Sie erkennt, sie muss auf nichts hinarbeiten, weil alles schon da war.“ Darsteller Michael Krause sieht eine ähnliche Entwicklung auch an Poppet, der anfangs von seiner Idee und seinen persönlichen Themen eingenommen ist, letztlich aber erkennt, dass es ihr gemeinsames Leben ist, das ihn ausfüllt. „Nicht nur emotional, sondern auch in dem Wissen, dass sie beide gleich sterben werden. Beide stellen ihr Leben hinten an, um die Menschheit zu retten. Das steht für ihn im Vordergrund.“

Die Charaktere des Ehepaares sind es, die dieses äußerst textlastige Stück über eine Stunde Spielzeit hinweg tragen, doch wirkt es nie überladen. Eugène Ionescos ist bekannt für sein Spiel mit der Sprache, und so zeigt er viele Varianten, die jede für sich auf wunderbare Weise die Dynamik und Persönlichkeit der Charaktere zeigt. Auch gibt es einige längere Textstellen, in denen sie synchron oder übereinander sprechen. Sie spielen sich die Sätze wie Bälle hin und her, dann wieder schwelgt er in langen selbstkritischen Sequenzen, sie verfällt in vorwurfsvolle Tiraden, tröstet ihn, er lacht mit ihr und über sie, herrscht sie an, sie lacht ihn aus, verhöhnt ihn. Es scheint sie beinahe wachzurütteln, als sie den Redner erblicken. Doch, wie wir erfahren, vergeblich. Alles, was sich vorher abspielt, ist ein gedehntes Warten, ein Erwarten. Der*die Zuschauer*in fragt sich in manchen Momenten, ob das Konstrukt dieser Absurdität für sie nicht doch einbricht und Poppet und Semiramis die Realität des eigentlich leeren Raumes begreifen. In einer Ungeschicktheit wirft Poppet einen anscheinend von einer jungen Dame besetzten Stuhl um und sie sehen sich erschrocken an. Nach kurzem Stillstehen entschuldigen sie sich überschwänglich bei ihr, doch für einen kurzen Moment erhascht man in ihren Gesichtern neben Schrecken auch komplette Ratlosigkeit im Umgang mit dieser Situation. Gleichfalls bestehen Szenen, in denen die vierte Wand durchbrochen wird und sie sich miteinander absprechen, wen oder was sie gerade gemeinsam sehen. In diesen findet sich auch eine Kommunikation und Abstimmung, die sich auf das Publikum überträgt, dass man zusammen an der Erschaffung dieses Narrativs festhält.

Der Verein “TaL – Theater am Limit” setzt sich seit Mai 2023 für Theater an unüblichen Orten ein. Die Gründung ihres Vereins sei nach jahrelangem Zusammenarbeiten und Freundschaft „überfällig“ gewesen. Orte sollen zum Theater gemacht werden, die nicht der Norm entsprechen, wie die Bale, im Maria-Hilf-Park oder eine Bar. Das ist für Hamberger Theater: „Es soll nicht per se gefallen, sondern es soll bewegen.“ Der Verein verweist auch auf die prekären Verhältnisse derzeit in der freien Szene. Der Aufbau und die gesamte Inszenierung ist für Michael Krause „Herzblutsache“, daher wollen sie überdies einen freien Zugang für Jede und Jeden, auch wenn man sich den Eintritt nicht leisten kann. Er führt weiter aus: „Viele jüngere Leute denken bei Theater an Anzug und Abendkleid. Die Gesellschaft ist von diesem Klischee noch nicht weggekommen, aber es tut sich in der Hinsicht auch gerade etwas.“

Das Stück ist absichtlich offengehalten und doch lässt es sich auf Jede*n und ihr Leben anwenden, wenn man sich darauf einlässt. Obwohl es vor über 70 Jahren geschrieben wurde, ist es zeitlos. „Die Suche und Verlorenheit sind gerade ein großes Thema in der Gesellschaft,“ schließt Edith Hamberger. Wegen des hohen Andrangs wird es nach der ausverkauften Schlussaufführung heute, 7.10., noch eine Zusatzvorstellung am Sonntag, 15.10. in der Bale geben. Reservierungen sind unter https://www.instagram.com/theater.am.limit möglich.

Fotos: Moritz Polin

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