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Die Porn, ein Reisebericht

Ich stülpte mir die Maske auf, bereit meine Grenzen fallen zu lassen und begab mich auf eine Reise in eine Welt geprägt von Verlangen und Lust.
Die Neugier trieb mich nicht nur um mich selbst zu erkunden, sondern ein Phänomen mit eigenen Augen zu betrachten, das in ein paar hundert Jahren mit Staunen in Geschichtsbüchern gelesen werden wird.

Einige Tage zuvor war ich einen Freund in Berlin besuchen. Mir schien, dass der Kontrast zwischen der historischen Architektur und dem postmodernen Zeitgeist die Geistesentwicklung dieser Kultur reflektiert.
Wer waren wir? Zu wem sind wir geworden? Wie viel von dem wir waren, steckt noch in unserem Sein? Welche Wesen schlummern tief in uns und wie wollen wir mit ihnen umgehen?
Diese Fragen schreien aus allen Ecken Berlins: Seien es die grausam pompösen Bauwerke wie z. B. der Tempelhofer Flughafen im Kontrast einer Baustelle zwei Straßen weiter, die seit Jahren einem Entwicklungsland Konkurrenz macht und langsam zu Natur wird.
Wie die Rankenpflanzen sich aus den verlassenen Backsteinen ihren Weg ins Nirgends bahnen, sprießt der aktuelle Zeitgeist aus den Knochen der alten Gebäude.
Aber das Gebäude, um das es hier gehen soll, ist die alte Münze, ein ehemaliges Münzprägewerk, nun zur Kulturstätte umfunktioniert. Die alte Münze dient als Setting für das 10-jährige Jubiläum der Pornceptual, einer Fetisch-Technoparty.
Ich hatte mir keine Vorstellungen über die Ausmaße dieser Party gemacht. Wenn ich aus der Provinz an eine große Party denke, gibt es 500 Besuchende. Hier waren es 2500.
Die Schlange der züchtig und ausgefallenen Gekleideten reichte uns einen halben Kilometer entgegen. Dank dem Eintrag auf die Gästeliste konnten wir sie überspringen. -Ich weiß auch nicht, wie ich hier gelandet bin. Eben noch konservativ anmutender Bergsteiger und nun mit der Club-Elite unterwegs.
Mein Freund wies mich mit knappen Worten in die Kultur ein: „Das ist die Club-Elite, hier wird Schlechte-Laune-Pulver gezogen, sich über die schlechte Stimmung und Musik beschwert und geballert, bis die Nasenscheidewand den Kniefall macht.“ Letztendlich war die Bande aber sehr anständig, schlechte Laune stand auch nicht auf dem Programm, stattdessen: Chemische Lusttropfen, magische Tapeten, Kuschelpulver und tanzen, bis die Knie platzen. Oh, ich vergaß das Rauchen: Rauchen, um zu leben, Leben um zu rauchen.

Anfangs war die Stimmung noch etwas ungelenk, die Menschen waren noch halb nüchtern, die Outfits saßen noch alle am richtigen Platz und bedeckten die Objekte der Begierde.
Wir waren erst zu viert, dann in einem Dreiergespann unterwegs. Die Gruppe hatte ein gut eingefahrenes Pacing. Mithilfe der Aktivitäten: Tanzen, Toilettenplatz bekommen, Ballern, Rauchen, jagten wir unserem eigenen Schwanz hinterher, wobei wir kreiselnd immer mehr Energie und Spannung beschwörten.
Ich ließ mich in die Gruppe fallen, sie wussten, wie der Laden läuft. Ließ mich berieseln und freute mich, eine fremde Welt auf derart sichere Weise betreten zu können.
Passend dazu legte das Mädel in unserer Gruppe uns jeweils ein Halsband um und führte uns durch die verschiedenen Räume der „Alten Münze“. Wir tippelten mit ruhigem Gewissen hinterher und waren gut behütet. Unterwegs im Club mit Mama und Papa.
Doch langsam wuchs in mir ein Drang zwischen den intensiven Klängen der Musik und den Wallungen meiner Neurotransmitter. Ich war in einer Ordnung, mit der ich Sinn in dieser kleinen Welt erleben konnte, doch diese Ordnung versperrte mir auch den Weg, meine eigenen hautnahen Erfahrungen zu machen.

So riss ich meine Leine an mich, schlang sie mir um die Schultern und biss in die Zügel. Mein Marsch in die Unterwelt konnte beginnen.

Die 2500 Besuchende hatten sich zu dieser Stunde auch schon zu einer Masse geformt. Geschmeidig wie eine Schlange wand sie sich durch die unterirdische Luststadt. Ich hatte aber keine innere Karte vom Gelände bilden können. Die kleinen chemischen Helferchen hatten meiner Orientierungsfähigkeit erst freundlich die Hand geschüttelt, nur um ihr dann zu sagen, dass sie nun von jemand anderem ersetzt wurde. Der Name des neuen Lenkers war „Bock“.

So lief ich etwas tragisch im Kreis gefangen zwischen einer Chillout-Area mit Bällebad und hellen Darkrooms, die mit Folien voneinander getrennt waren. Im Bällebad versuchte ich noch recht unschuldig und wahrscheinlich etwas tollpatschig, mir mit meinem Halsbändchen jemanden zu angeln. Ich musste allerdings recht schnell feststellen, dass die unbarmherzigen Gesetze der sexuellen Anziehung genauso durch das Adergeflecht der Masse laufen wie sonst überall auch.
Ich war etwas verloren, kannte das Fahrwasser nicht und ohne Gruppe hatte ich keins mehr. Die Blicke der anderen verlorenen notgeilen Seelen halfen mir in dieser Lage nicht. Ich wollte nicht so sein wie sie! Ich habe Anstand und meine Freuden sollen von Abenteuer und Magie geprägt sein.
Ihre großen starrenden Augen jedoch leuchteten jede dunkle Ecke auf dreckige, verbotene Vergnügen ab. Ich wollte nicht, dass die Würde aus dem Glanz meiner Augen weicht.
Irgendwann entkam ich dem ersten Ring des Labyrinths und fand mich bald wieder beim Tanzen und Gucken. Es gab so viel zu sehen. Überall waren Menschen, denen ich hinterherlaufen wollte, weil sie alle so aussahen, als ob sie unterwegs zum Spaß ihres Lebens wären. Aber es gab so viele davon und die Menschen kamen Nirgendswo an. Tanzen ist geil, es ist aber keine Endstation. Ich aber war auf der Suche nach der Endstation, nach dem Heiligen Gral der Lust. In dem Moment lief ich am Darkroom vorbei. Ich war noch nie in so einem Raum. Grund genug hineinzugehen.
Aus duzend dunklen Ecken des Raums kam unterdrücktes Stöhnen. Der Dunkelheit wegen erkannte ich nicht, wen ich vor mir hatte. Ich hegte den Verdacht, dass sich hier fast nur Männer herumschlichen. Doch dann erspähte ich in einem Licht- und Hoffnungsblitz lange Haare. Das langhaarige Wesen vergnügte sich soeben mit jemanden. Ich fragte die beiden, ob ich nicht mitmachen darf, was sie mir gütig gewährten. Ich berührte sie und glitt langsam ihre Oberschenkel nach oben. Mein Irren von vorhin schien fast aufgehoben, stand ich doch kurz davor, vom Brunnen der Lust zu trinken. Doch mein freudiges Erwarten wurde unterbrochen von einem Körperteil, das ich da unten nicht erwartet hatte. Verwirrt, ob ich noch bei der richtigen Person war, stand ich auf, um mich in einem Kreis aus lüsternen, verloren männlichen Körpern wiederzufinden. Ich entfloh der Szene, frustriert so dicht an der Verheißung vorbeigeschlittert zu sein.


Dann meldeten sich die Grundbedürfnisse: Klo, Durst, freundschaftliche Zuneigung, Rauchen. Die chemischen Helferchen waren im Begriff, mich zu verlassen. Ich musste wieder meine Freunde finden, aber wie? Ich fing an schnellen Schrittes die Gänge zu durchforsten, wobei ich erstaunt war, dass die Leute zumindest dem Anschein nach in dieser Hölle der Ekstase klar kamen. Niemand fing an, gewalttätig, übergriffig oder panisch zu werden. -Noch war die Masse am Fließen, noch ging der Fluss in geregelten Bahnen.
Ich aber war allein und hilflos. In mir schrie ich die Namen meiner Freunde, hoffend, dass die stille Stimme all die Laute der unterirdischen Stadt übertönen könnte.

Nach Stunden des verlorenen Irrens sah ich ihn. Mein Herz machte einen Satz, ich war noch nie so froh, jemanden wiedergefunden zu haben. Nach kurzer Verschnaufpause wurde ich schnell ins gewohnte Pacing reintegriert und so machten wir uns gestärkt und wieder angenehm betüddelt gemeinsam auf die Suche der Lust.
Wir fanden sie in einem der hellen Darkrooms. Die Brüste in ein enges Hemd gequetscht, lag sie auf einer Schaukel und wurde von einem großen Mann mit riesigem Penis gefickt. Sie hatte die Aura, als ob sie dem Liebesakt zwischen Engel und Dämon entsprungen war.
Der Anblick tat schon fast weh. Mein Körpergeistkontinuum verzehrte sich nach einem solch heilig verdammten Wesen.
Wir rissen uns los von dem Anblick und gingen wieder zum Tanzen. Wäre es nicht besser gewesen, dabei zu bleiben? Dann hätte ich das ganze sexuelle Bombardement als ferner Beobachter genießen können und wäre dem Frust ausgewichen. Aber jetzt war ich schon, wo ich war.
Mein Freund ermahnte mich, dass Frust keine gute Einstellung war und kein Platz in diesen Gängen hatte. Ich nahm sein Rat an und erkannte, dass überall hübsche Rosen waren, ich mich aber in den Dornen verfangen hatte. Nur mit viel Geschick und Glück würde ich mich zu den Blüten durchwinden.
Und so machte ich mich auf eine zweite Erkundungstour. Den dunklen Darkroom mied ich dieses Mal. Die Gerüche, die nun aus ihm strömten, erinnerten an eine Mischung zwischen Sauna und Schweinestall.
Nach kurzer Suche fand ich mich in dem hellen Darkroom wieder. Und wie vom Schicksal bestellt, lief dort eine verlorene Dame herum. Die bisherige Reise hatte meine Zunge leicht und flüssig gemacht und so machte ich ihr einen Antrag zum Spielen. Nach anfänglicher Verwunderung stimmte sie ein und wir fingen an, uns zu vergnügen. Bald stellte sich heraus, dass sie nur halb die Dame war, die ich anfangs gesehen hatte. Wie auch mein sexuelles Verlangen, auf der einen Seite geprägt von Frust, auf der anderen von Verheißung, war auch Sie/Er eine Verkörperung von Gegensatzpaaren.
Sie fand mich süß und hatte ihren Spaß mit mir. Doch wie bei einem Walfall, sammelten sich allerlei Wesen um den nahrhaften Grund. Ich verstand ihren Hunger und ließ sie ein wenig teilhaben, doch gleichzeitig verteidigte ich mit meiner Präsenz die Szene, sodass Ordnung und Anstand bewahrt wurden. Kommen war für mich keine Option, die postorgasmischen Gefühle hätte ich in dem Setting nicht ertragen können und so beendete ich das Spiel, als die Zeit reif war. Dann kümmerte ich mich noch um meine Spielgefährtin, nur um dann wieder getrennte Wege zu gehen.


Die Party hatte nun ihre letzte Phase erreicht: der Zerfall. Verstörte und verstörende Menschen taumelten verloren durch den Morgen. Das Einzige, was noch Ordnung bewahrt hatte, war das monotone, unermüdliche Marschieren der Techno-Club-Elite.
Mein Weg führte in die Außenwelt. Draußen im Vorhof brannte die heiße Augustsonne. Ich hatte eine Art von Endstation erreicht. Tanzen brachte mich nirgends mehr hin. So saß ich apathisch und dissoziiert den Rest der Party auf der Bank und ließ die Stimmung des Orts und der Menschen auf mich wirken. Mein Geist war verstört, aber mein Gewissen war ruhig.

Gewaltig ist die Stadt in ihrem Ausmaß, selbst mit Fernglas kann man das Ende nicht sehen. Sie steht auf sandigem, sumpfigen Boden und hat mit ihrer Betonfaust eine harte Ordnung in die Landschaft getrieben. In ihrem vernetzten Geist reden 3,8 Millionen Stimmen durcheinander, zueinander, aneinander vorbei.
Aber wider Erwarten ruht auch der sumpfige Geist der Landschaft nicht, sondern windet sich mit strengen Gerüchen wieder durch den Geist der Menschen.
Und wenn sie in die tiefe Morgensonne taumeln und im Club den alten Göttern geheiligt haben, erhaschen diese Götter einen Sonnenstrahl durch die Augen ihrer Jünger und freuen sich immer noch zu sein.

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