Folge
Newsletter
Anmelden

Mein Körper-meine Entscheidung

1973 wurde in den USA das Grundsatzurteil  namens Roe v. Wade erlassen. Der amerikanische Supreme Court beschloss damals die Legalisierung von Abtreibungen. Im Juni dieses Jahres wurde das Gesetz gekippt. Ein kleiner, persönlicher Gedankenausflug zu der Änderung.

Manchmal, wenn mir langweilig ist, beobachte ich fremde Menschen und denke mir Geschichten zu ihnen aus. Der ältere Mann auf der Bank wartet gerade auf seine schon erwachsene Tochter, um gemeinsam etwas essen zu gehen, das kleine Kind, das unaufhörlich auf und ab springt, kann den kommenden Zirkusbesuch gar nicht mehr abwarten und die schwangere Frau, die von ihrem Freund begleitet wird, ist gerade auf dem Weg zum Arzt zu einer Vorsorgeuntersuchung. In letzter Zeit sehe ich viele schwangere Frauen. Seit das Roe v. Wade Gesetz in den USA gekippt wurde, um genau zu sein. Natürlich sind die USA weit weg, es bräuchte mich nicht zu betreffen. Es müsste nichts Persönliches sein. Aber das tut es. Weil ich eine Frau bin und in einer Welt lebe, in der noch immer (meistens weiße) Männer über den Körper von Frauen bestimmen. Es macht mich  wütend, weil ein Land, in dem Freiheit so großgeschrieben wird, nur ein Geschlecht berücksichtigt. Und ich bin wütend auf mich. Auf meine eigene Naivität zu glauben, dass sich  Fortschritt immer nur vorwärts und niemals zurück bewegt. 

Ich frage mich, wie es der Tochter des auf der Bank sitzenden Mannes ergehen würde, wenn sie wüsste, dass das Baby in ihrem Bauch nicht überleben wird, und es dennoch austragen muss. Ich frage mich, was mit dem kleinen, aufgeregten Mädchen geschehen würde, wenn es nach einer Vergewaltigung  nicht abtreiben darf. Und ich frage mich, was die Frau mit ihrem Freund tun würde, wenn sie erführe, dass sie schwanger ist, aber weder finanziell noch psychisch in der Lage ist, für ihr Kind zu sorgen. Die Schicksale existieren in meinem Kopf, wenn ich durch den Park schlendere und Menschen beobachte und es sind echte, greifbare Wirklichkeiten in einem anderen Land. 

Alle sprechen über den Wert des ungeborenen Kindes, aber was ist mit der Mutter und ihrem Wert? Zählt dieser denn gar nicht? Verzweifelte Menschen üben verzweifelte Taten aus. Wer glaubt, dass durch das Verbot Abtreibungen verhindert werden, ist naiv. Es wird sie dennoch geben. Nur mit einem höheren Risiko für die Mutter. Die Gesetzesänderung ist eine herablassende Haltung gegenüber Frauen, die ihnen das Urteilsvermögen abspricht, selbst zu wissen, was am Besten für sie ist und mutet ihnen aber gleichzeitig zu, ein Kind unter prekären Verhältnissen, auch ohne Unterstützung eines Partners, großzuziehen. Dies ist ein Widerspruch in sich, weil Frauen  keine Rechte besitzen und doch  die ganze Verantwortung tragen sollen. 

Wenn ich im Park sitze und den älteren Mann mit seiner Tochter beobachte, stelle ich mir vor, dass sie lachen, weil die Tochter frei ist, über ihre Zukunft und ihren Körper zu entscheiden. Das kleine Mädchen soll Kind sein dürfen und niemals die Bürde einer ungewollten Schwangerschaft tragen müssen, und die schwangere Frau sollte für ihr Kind bereit sein.

Es sind ihre Körper.

Es ist mein Körper.

Es ist unsere Entscheidung.

Photo: Dara Shetty

Total
0
Shares
Vorheriger Artikel

11. Juli 1916 – Der Wendepunkt in der Schlacht von Verdun

Nächster Artikel

Phenix im Interview: über Zuhause und Selbstbewusstsein

Verwandte Artikel