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Alte Leier – neu in Österreich

Elfriede Jelineks Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) war am 21. Januar pünktlich zum Schneetreiben im Tiroler Landestheater und damit zum ersten Mal in Österreich zu sehen. Jelineks dichte und pointierte Sprachkunst bescherte im Zusammenspiel mit einer schrillen Inszenierung von Joachim Gottfried Goller einen vollen Theaterabend.

Missbrauchsvorwürfe in Tirol

Vor gut fünf Jahren machte die ehemalige Skirennläuferin Nicola Werdenigg aus Innsbruck sexuellen Missbrauch und Machtmissbrauch im österreichischen Skiverband publik. Elfriede Jelinek zögerte nicht lange und machte daraus sofort ein Bühnenstück. Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin wird aufgrund ihrer Österreichkritik immer wieder als Nestbeschmutzerin geschmäht. Ein Titel, der sie und Werdenigg verbindet. Fast vier Jahre mussten vergehen, bis das am Schauspiel Köln uraufgeführte Werk seinen Weg in ein österreichisches Theater fand. Und dann direkt nach Innsbruck, den Geburtsort Werdeniggs, Ort von Jelineks ersten Literaturpreisen und Hauptstadt des Skitourismus, den die Österreichbeobachterin spitz kommentiert mit „[…] wir haben Berge nach ihrer Eignung für den Sport ausgewählt, sie blieben nicht lange weiß, wir haben mit Kanonen auf Spatzen geschossen, mit Kanonen auf ihre schöne, hausgemachte Natur.“

Blutiger Verbandschef

In gewohnt doppeldeutigem Redeschwall beginnt Jelineks Stück mit einem essayistischen Monolog, der sowohl vom Publikum als auch von der Schauspielerin Janine Wegener einige Konzentration verlangt. Statisch wie der Fernseher im Bühnenbild monologisiert sie über den Skisport, Skisportler*innen „tausende Individualisten […] feiern und fahren, fahren und feiern“ und den „blutigen Verband, den blutigen Verbandschef“.
Im zweiten Teil schwebt ein Engel (Christina Constanze Polzer) in eine farbenschrille Landschaft von nackten Körperteilen herab. Jesus (Ulrike Lasta) kämpft zwischen Schenkeln mit Kreuz und Dornenkrone. „Es nützt auch nichts, Männer an die Wand zu nageln, im Gegenteil, das macht sie nur populärer.“ Der erhobene Jelinek’sche Finger in der Form von Jesus, lamentierend und philosophierend über Täter-Opfer-Umkehr, Körperbilder und das Frauenbild in der Kirche, ruft im Tiroler Publikum Lachen und Skepsis hervor. „Das Frauenbild in meiner Religion hat sich nicht groß verändert, es ist noch immer klein.“ Nicht weniger ambivalent sind die Reaktionen als der Gottvater (Stefan Riedl) das Bundesland mit seinen vielen Skigymnasien, die „schon übergehen“, direkt anspricht: „Festhalten an ihrem Tiroler Glauben… aber nicht zu fest, sonst fällt der Glaube um oder man selbst vom Glauben ab…“
Die Abschlussszene mit Affen kommt sowohl im Werk Jelineks als auch in der Inszenierung unerwartet, Goller entschied sich jedoch gegen den Dialog der Primaten und lässt das Publikum so ratlos zurück.

Multimediale Inszenierung

Durchzogen von Tiroler Brauchtumsmotiven vergeht die Zeit von 100 Minuten durch das dynamische Bühnenspiel schnell. Redeergüsse reihen sich in typischer Manier der österreichischen Nobelpreisträgerin aneinander, sodass man Jelineks sprachlichen Spitzfindigkeiten nicht immer gänzlich folgen kann. Die Musik von Imre Lichtenberger Bozoki nutzt ein breites Spektrum von den Kastelruther Spatzen bis zu Franz Schubert. Videoaufzeichnungen von Skirennen, zeitgetreue Skianzüge, Tiroler Faschingstracht und originale Tonsequenzen Jelineks („Das ist eine schöne Landschaft“ aus Die Ramsau am Dachstein) machen den Abend zu einem lebendigen Erlebnis für Auge und Ohr. Julia Neuhold (Bühne und Kostüm) mischt in der Bühnengestaltung grelle Farben und erinnert an eine Popart Version von Robert Wilson. Auch in der Wahl der Requisiten ist sie einem Kontrast nicht abgeneigt.

Mit textlichen und inhaltlichen Freiheiten inszeniert Joachim Gottfried Goller die Österreichpremiere von Elfriede Jelineks Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) eindrucksvoll, hervorragend umgesetzt von den sechs, jeweils mehrere Rollen besetzenden Schauspieler*innen. Die pointierte Herausarbeitung der Themen Machtmissbrauch, Kirche und Skisport durch Ironie und satirische Spitzen gelang eindrücklich. Es bleibt zu hoffen, dass die Themen auch beim gleichzeitig stattfindenden Hahnenkammrennen in Kitzbühel nicht vergessen bleiben.

Fotos: Birgit Gufler

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Filmtipps: STAMS (über das Skiinternat in Stams, das auch Nicola Werdenigg besuchte (Missbrauchsfälle nicht auf dieses Internat bezogen)) ab 3. März im Kino

„Persona Non Grata“ von Antonin Svoboda über die Erlebnisse Nicola Werdeniggs und sexuellen Missbrauch (Fertigstellung voraussichtlich 2023/24)

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