Bei einem Vortrag gibt der Vortragende offen sexistische Äußerungen wieder. Ich fühle mich unwohl und wütend. Ich weiß, dass ich etwas sagen sollte, und mache es dennoch nicht. Ein Kommentar.
Als ich den Saal betrete, ist er schon so gut gefüllt, dass ich mich nur noch ganz nach vorne in die erste Reihe setzen kann. Es ist fünf Uhr nachmittags und man merkt an den Lichtern, dass die Tage langsam kürzer werden. Heute ist ein Vortragender eingeladen, er kennt sich in seinem Fachgebiet sehr gut aus, hat an vielen Beschlüssen mitgeschrieben und arbeitet schon seit über 20 Jahren in diesem Gebiet. Er ist selbstbewusst, das merkt man schon an der Art, wie er den Raum betritt. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen geht er zu seinem Rednerpult und legt seine Sachen darauf ab, bevor er mit seinem Vortrag beginnt. Sein Auftreten ist jovial, locker, er reißt Witze und gibt eigene Geschichten zum Besten. Ich will in diesem Kommentar nicht die Dinge wiedergeben, die gesagt wurden. Weil sie hier keinen Raum haben sollten, weil solche Dinge niemals Raum haben sollten.
Der Vortrag beginnt und schon ganz am Anfang wird mir klar, welche Einstellung der Vortragende Frauen entgegenbringt. Ich weiß, dass dies der Moment wäre, meine Hand zu heben und etwas zu sagen. Ich mache es nicht. Dafür bin ich nicht mutig genug… weil auch sonst niemand etwas sagt… weil ich ihn am liebsten anschreien würde… weil ich das nicht machen kann… weil ihm das nur in die Hände spielen würde. Nicht hier in diesem Raum, bei diesem Mann. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu den anderen Zuhörenden umzudrehen und Blicke auszutauschen. Manche runzeln die Stirn, andere rollen mit den Augen, manche sehen an mir vorbei. Ich will so unbedingt etwas sagen, aufstehen und gehen. Aber ich mache nichts. Das Einzige, was ich schaffe, ist, bei seinen Witzen stumm zu bleiben. Ich will ihm nichts von mir geben. Will nicht den Anschein erwecken, dass ich auch nur irgendetwas von ihm gutheiße. Will ihm nicht die kleinste Genugtuung geben.
Nach dem Vortrag gehe ich nach Hause, erzähle Freundinnen von dem Erlebten und jedes Mal überkommt mich eine Welle aus Scham und Wut. Beim nächsten Mal werde ich den Mund aufmachen, sage ich mir. Doch ich weiß, dass sich das im Kopf leicht anfühlt, wenn ein paar Tage vergangen sind und man Abstand zu der Situation hat. In einem Raum aufzustehen und für sich einzustehen ist beängstigend, besonders wenn man 30 andere Personen im Rücken stehen hat, die auch nichts sagen. Das soll in keiner Weise ein Vorwurf sein (was könnte ich ihnen schon vorwerfen). Ich zweifle nicht daran, dass viele in diesem Raum saßen, die nicht mit den Aussagen des Vortragenden einverstanden waren. Wahrscheinlich war es sogar die große Mehrheit. Aber es ändert nichts daran, dass ich mich in diesem Moment trotzdem allein fühlte. So wie viele andere in diesem Raum. Wir sind ein Meer aus Einsamkeiten, die einander nicht finden. Beim nächsten Mal mache ich etwas, sage ich mir. Ich bin mir nicht sicher. Weil es immer wie ein innerer Kampf ist, den man mit sich selbst ausfechtet, zwischen Scham und Wut, zwischen Angst und Traurigkeit. So wie ich diesen Artikel aus Wut heraus schreibe, weil ich darüber sprechen muss, verschweige aber gleichzeitig einen weiteren Grund, wieso ich nicht über den Inhalt der Aussagen spreche… Weil ich Angst habe, sie öffentlich zu machen. Es ist nicht leicht, es wird nie leicht sein, aufzustehen. Ganz egal, wie sehr ich mir das einzureden versuche. Ich will schreien, aber ich schweige. Ich will weinen, deswegen schreibe ich.