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In der Bib

Heute Morgen bin ich aufgewacht, hab’ meinen Terminkalender betrachtet und gedacht: „Ich geh in die Bib!“ Von diesem Ort hab’ ich schon so viel Gutes gehört. Der Fokus solle hier bis ins Unendliche gesteigert werden, auf einmal sei der Lernwille wieder da, die Merkfähigkeit wäre so gut wie noch nie. „Genau das brauche ich heute“, hab’ ich mir gedacht und meine Sachen gepackt, etwas zu trinken, meinen Laptop, meine Kopfhörer hab’ ich vergessen.

In der Bib war ich zuerst unsicher. Wo setzt‘ ich mich hin? Muss ich mich anmelden? Niemand hat mich aufgehalten, also hab’ ich mir einen Platz gesucht, nicht zu sehr am Rand, weil ich nicht will, dass mich jemand beobachtet, aber auch nicht zu weit in der Mitte. Falls ich aufs Klo muss, ist der Weg dann so weit. Ich will auch nicht in einer Reihe sitzen, in der niemand sitzt, weil mein Kopf dann sagt, dass mit dieser Reihe etwas nicht stimmen kann, wenn da niemand sitzt. Ich möchte nicht, dass alle denken: „Ha, die hat sich in DIE Reihe gesetzt“. Obwohl das natürlich Blödsinn ist, weil erstens, was sollte mit dieser Tischreihe schon sein, und zweitens, niemand hier achtet auf mich.

Also hab’ ich mich in die zweite Reihe gesetzt, vier Stühle weiter sitzt noch jemand, Richtung Gang sind es drei Stühle. Ich mag, dass im gleichen Abstand links und rechts von mir eine Veränderung meiner Umwelt passiert. Links, weil da jemand sitzt, rechts, weil die Reihe zu Ende ist und ich im Zentrum davon bin.

Jetzt sitz ich in der zweiten Reihe in der Bib und weiß nicht ganz, was ich machen soll. Vor mir ist der Tisch und mir fällt wieder ein, warum ich da bin. Ich hebe meinen Rucksack hoch und verharre in der Bewegung, weil die Schnallen klimpern und in der leisen Bib klingt es, als würde ein Glockenturm schlagen. Alle starren mich an. Denke ich zumindest. Ich sehe hoch, sehe mich um, doch niemand starrt mich an. Also mache ich weiter, glockenturmschlaglaut packe ich meinen Laptop aus, schalte ihn an und klicke ein bisschen darauf herum, weil ich nicht ganz weiß, wohin mit mir. Ich traue mich nicht etwas anderes zu machen als meine Mails zu checken, nicht dass die Leute denken, ich würde in die Bib kommen, um WhatsApp-Nachrichten zu beantworten. Also fange ich an, einen Text zu lesen, von dem ich gar nicht weiß, ob ich ihn lesen soll. Das sagt nämlich die Professorin in einer kurzen Audiobotschaft und ich hab’ meine Kopfhörer vergessen und deshalb kann ich die Nachricht nicht anhören. Also lese ich den Text, von dem ich nicht weiß, ob ich ihn lesen soll. Er ist eh ganz interessant, denke ich mir, kann aber nach zwei Seiten schon nicht mehr weiterlesen. Der versprochene Fokus hier ist irgendwie an mir vorbeigegangen, und ich sehe mich suchend danach um.

Der ältere Herr vor mir tippt aggressiv auf seine Tastatur, aber nicht im Zehnfingersystem, das sieht irgendwie lustig aus. Er hat sein Jackett über die Stuhllehne gehängt, seine Sachen auf dem ganzen Tisch ausgebreitet. Seine ungestüme Arbeitsweise verunsichert mich.

Die Frau neben mir ist unruhig. Gerade lehnt sie über einem Buch, die Nase berührt fast die Seite vor ihr und ich frage mich, ob sie schlecht sieht oder ob das bei der Aufnahme vom Stoff helfen soll. Lernen aufgrund der Nähe zum Inhalt oder so. Vielleicht sollen die Seiten auch ihre Tränen auffangen. Sie lehnt sich zurück, streicht sich über das Gesicht und rauft sich die Haare. Sie hat schöne Haare. Aber durch ihre Verzweiflung fühle ich mich unbehaglich.

In der fünften Reihe sitzt jemand mit dem Rücken zu mir, der ständig zu seiner Flasche greift. Die Flasche ist grün, mit gelben Streifen. Ich frage mich, was darin ist. Es ist durchsichtig, mein erster Gedanke ist Wasser. Aber er nimmt nur kleine Schlucke, aber viele. So, als ob er viele kleine Shots trinken würde. Vielleicht ist es doch Vodka. Oder Schnaps. Sein Trinkverhalten erweckt in mir Lust auf das Wochenende. Dabei ist erst Montag.

Seit drei Stunden bin ich hier, in der Bib. Mein Platz hat sich als nicht ganz optimal erwiesen, obwohl ich ihn sehr bedacht gewählt habe. Um zwölf Uhr hat nämlich die Sonne so stark durchs Fenster geschienen, dass ich mich vor lauter Hitze kaum noch konzentrieren konnte. Um ein Uhr hatte ich solchen Hunger, dass ich an nichts anderes Denken konnte als das Curry von gestern – obwohl in dem Curry Mais ist und ich eigentlich keinen Mais mag.

Meine Augen werden schwer, die Sonne scheint mir in den Rücken und damit auf den Laptop, sodass ich nichts sehen kann. Die Bib mit ihren monotonen Geräuschen, dem Tastaturgeklapper, dem leisen Murmeln, dem Rascheln von Seiten, den verhaltenen Schluchzern und dem beinahe hörbaren Knarren von Zahnrädern im Kopf schläfert mich ein. Als ich die Augen wieder aufmache, sitzt jemand neben mir. Nicht direkt, aber direkt am Gang, zwischen uns sind zwei Stühle. Die Hitze auf meinem Rücken ist verschwunden, die Sonne ist weg. Mein Nacken tut weh, meine Beine prickeln. Ich schaue auf die Uhr und war plötzlich fast einen ganzen Tag in der Bib.

Mein Bauch knurrt. Ich bilde mir ein, die Person rechts neben mir wirft mir einen wütenden Blick zu, weil ich den Arbeitsfluss, die Geräuschkulisse, mit meinem Geräusch störe. Ich fühle mich nicht wohl hier, stelle ich resigniert fest. Müde packe ich meinen Laptop in meine Tasche, mir ist egal, wie laut es ist. Am liebsten wäre ich zu dem Mann mit dem vermeintlichen Vodka gegangen und hätte einen Schluck getrunken. Am liebsten wäre ich zu dem Mädchen gegangen und hätte auch geweint. Am liebsten hätte ich dem anderen das blöde Zehnfingersystem beigebracht, weil das seinen Alltag bestimmt erleichtert. Als ich durch die Drehtür gehe, habe ich das Gefühl, wieder atmen zu können. 

Am Abend habe ich zu meiner Mitbewohnerin gesagt: „Du, die Bib ist toll. Da bin ich richtig fokussiert.“

Ich glaub, ich geh nicht mehr in die Bib.


Foto von Masha Raymers von Pexels

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