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Auguste Escoffier und die Reflexion des gesellschaftlichen Wandels in der professionellen Küche

Als Koch in der Küche eines mittelgroßen Restaurants in der Pariser Innenstadt im Jahr 1867 habe ich ein Alkoholproblem – eigentlich so wie alle meiner Arbeitskollegen. Ohne Alkohol hält man es in der Großküche ja kaum aus. Während mich mein Chef anschreit, dass die Fenster geschlossen bleiben müssten, weil sonst die Gerichte kalt würden, sehe ich, wie sich zwei meiner Kollegen die Zähne ausschlagen. Durch den Dunst der Holzkohleöfen, das spritzende Blut und die Fäkalsprache kann die Szene nur als höllisch beschrieben werden. Der, der mich anbrüllt ist Jean-Philippe, unser dritter Küchenchef in den letzten sechs Monaten. Die letzten zwei starben an einer Rauchvergiftung – sollten wir doch die Fenster öffnen?

Währenddessen strömte die europäische Avantgarde zur bereits zweiten Pariser Weltausstellung, die einen Höhepunkt des zweiten französischen Kaiserreiches und der Herrschaft von Napoleon III. darstellte. Dieser Zustrom des Großbürgertums und die hyperbeschleunigte Industrialisierung machten Paris zur Hauptstadt der hedonistischen Welt. Während große Fabriken immer größere Maschinen und mehr Mitarbeiter*innen beschafften, gab es in den Küchen der Restaurants und der Hotels wenig Fortschritt, aber genauso prekäre Arbeitsbedingungen wie im industriellen Sektor. Es gab keine Aufgabenteilung, alle schimpften und brüllten und der Küchenchef regierte und befahl – dazwischen immer wieder ein Schluck Alkohol. Die professionelle Küche schien wie eine von der sich zu schnell entwickelnden Welt abgeschottete Höhle voller Individualisten, die damit lebten, dass es darin dunkel und verraucht war.

Der damals 21-jährige Georges Auguste Escoffier wäre ja eigentlich lieber Bildhauer geworden, er fühlte sich zu den „schönen Künsten“ hingezogen. Stattdessen wurde er Koch und geleichzeitig Zeuge tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Er hatte schon in einigen Küchen unter den furchtbaren Bedingungen gearbeitet, jedoch nie als Chef de Cuisine. Als er dann zum ersten Mal Küchenchef geworden war und grundlegend mitbestimmen konnte, fing er an, jeden Arbeitsschritt sowie jedes kleine Detail, das in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kochen stehen könnte, zu überdenken und umzugestalten, wo es nötig war. Er besorgte sich die größte aller Kochhauben und machte sie zum Symbol für den Chef de Cuisine.

Escoffier ersetzte den Alkohol durch Wasser, machte die einheitliche Arbeitskleidung zur Pflicht und inaugurierte einen kooperativen Führungsstil im Umgang mit seiner Brigade. Er verlangte Ruhe und Beherrschung, verbot Kraftausdrücke, Sauberkeit am Arbeitsplatz stand bei ihm an erster Stelle. Damit wurde nicht nur das Image des Berufs aufgebessert, sondern auch das Selbstbild des Koches wandte sich zum Positiven. Mit Dingen, die heute als logisch erscheinen, revolutionierte er die Arbeitsweise in seiner Küche. Die damaligen Gerichte waren meist überkocht und zu stark mariniert oder gewürzt, um den ursprünglichen Geschmack und das Trockene zu überdecken. Die Leute hatten Angst, vom Essen krank zu werden und kannten nur diese aus heutiger Sicht viel zu langen Garzeiten. Escoffier wollte zurück zur Natürlichkeit der Zutaten. Er verkürzte die Garzeiten radikal, verzichtete auf übermäßiges Marinieren und legte damit den Grundstein für modernes Kochen. Er drehte alles um, was ihn an der Arbeit in der Küche störte, wandte Prinzipien aus anderen Bereichen an und versuchte mit den anderen Köchen zu arbeiten, statt gegen sie. Er erkannte den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel der Zeit im Zuge der Industrialisierung und integrierte ihn nicht nur in seine Gerichte, sondern auch in die Art, wie in seiner Küche gearbeitet wurde. Außerdem war er hervorragend darin, sich selbst zu inszenieren. Damals war es kaum zu glauben, dass ein Koch die Küche verlassen, das eigene Gericht servieren und dem Gast darüber erzählen würde. Escoffiers Art aufzutreten und sein Tatendrang brachten ihm Weltruhm ein. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein Koch zum Weltstar.

Mehr als 150 Jahre später gilt Escoffier als Mitbegründer der Haute Cuisine (hohe Küche). Außerdem hat er das bekannteste Werk der Kochliteratur Le Guide Culinaire verfasst. Escoffiers Geschichte zeigt, dass sich der gesellschaftliche Wandel auch in der Gastronomie widerspiegelt. Auch heute erobern immer wieder verschiedene Trends die professionellen Küchen in aller Welt und machen sie zu einem Mikrokosmos, in dem gesellschaftliche Veränderungen wie unter einer Lupe betrachtet werden können. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass sich Köch*innen nicht mehr mit der Kochkunst von nur einer Esskultur zufriedengeben, sondern mit alten Normen brechen und Neues probieren. Verschiedenste Kombinationen der großen und kleinen Küchen des Globus finden heutzutage auf dem Teller unter dem Begriff der Fusionsküche zueinander. Dieser Trend der kulinarischen Globalisierung findet nun schon seit vielen Jahrzehnten statt und hat schon fast jede Restaurant- und Hotelküche erreicht. Auch Fast Food jeglicher Art kann als Auswirkung gesellschaftlicher Trendwenden gelesen werden – weg vom Hedonismus, hin zu Effizienz und Zeitersparnis? Auguste Escoffiers Verständnis von Kochkunst entspricht bestimmt nicht dem, was Fast Food Restaurants heute in wenigen Minuten produzieren. Trotzdem finden sein Revolutionswille von damals und seine zahlreichen Ideen zur Optimierung der Küche auch dort in weiterentwickelter Form Platz. Seiner Idee, Kochen zu einer Kunst zu machen, werden diese Lokale aber natürlich nicht gerecht. Die Kochkunst ist doch schlussendlich das, was uns durch Optik und Geschmack der zubereiteten Lebensmittel alle zu Kulinariker*innen und im weiteren Sinne auch Kochkünstler*innen macht. Ob man die kommenden gesellschaftlichen Änderungen im Spiegel der klaren Brühe oder im Umgangston, sowie dem Alkoholkonsum der Mitarbeiter*innen einer Restaurantküche auslesen werden kann, sei einmal dahingestellt.

Anmerkung des Autors: Eine geschlechtergerechte Sprache wurde in den Erzählungen über das 19. Jahrhundert nicht verwendet, da die damaligen Geschlechterverhältnisse Frauen* meist aus Gastronomieküchen ausschlossen.

Beitragsbild: gemeinfrei

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