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Warum Gewalt an Frauen (anscheinend) kein Männerproblem ist

Triggerwarnung: In diesem Kommentar werden Gewalt und Morde an Frauen sowie Sexismus thematisiert. Es kommen keine expliziten Beschreibungen vor.

Geh doch aufrecht! Hör keine Musik über Kopfhörer! Sei wachsam! Sei selbstbewusst! Geh doch einen Umweg, wenn dein Nachhauseweg im Dunkeln zu wenig gut beleuchtet ist! Lerne einfach dich selbst zu verteidigen! Nutze jede Möglichkeit zur Flucht! Wehre den Angreifer ab!

Diese Phrasen kommen dir bekannt vor? Dann hast du wohl auch vom Gewaltpräventionspaket des Innenministeriums, das Mitte Jänner 2022 veröffentlicht wurde, gehört. Diese und weitere Tipps sollen Frauen helfen, sich gegen Gewalt zu schützen. Nur ein kleiner Aspekt wird dabei vollkommen in den Hintergrund gestellt. Obwohl es Gewalt gegen Frauen ist, obwohl von der Abwehr des Täters die Rede ist, geht ein unbestreitbarer Fakt nicht wirklich aus diesem Paket hervor: Gewalt ist ein Männerproblem. Gewalt an Frauen wird hauptsächlich von Männern ausgeübt. Gewalt ist nichts, das Frauen einfach so passiert. Gewalt ist etwas, das der Täter willentlich ausübt. Das Opfer bleibt das Opfer. Womit wir beim Problem dieses wahrlich unbedachten Präventionspakets wären: Warum richtet es sich an Frauen, obwohl es Gewalt gegen Frauen thematisiert?

2021 zählten die Statistiker*innen in Österreich 31 Femizide. Doch schon bei der Klärung des Begriffs Femizid kommen die ersten Fragen auf. Denn es gibt nicht nur die Bezeichnung Femizide, sondern auch Feminizide. Grundsätzlich bezeichnen beide Begriffe dasselbe: Morde durch Männer an Frauen, genau deshalb, weil sie Frauen sind. Die Erweiterung zum Begriff Feminizid führte die Anthropologin Marcela Lagarde durch, um damit auch die strukturellen Hintergründe solcher Taten miteinzubeziehen. Und damit wären wir beim nächsten wichtigen und ausschlaggebenden Thema: dem Patriarchat.

Das Patriarchat bezeichnet wörtlich übersetzt „die Herrschaft der Väter“, so wie wir sie aus veralteten, traditionellen Familienbildern kennen. Doch das Patriarchat und Femi(ni)zide haben eines gemeinsam: Die Macht geht von Männern aus. Opfer davon sind großteils Frauen beziehungsweise FLINTA*. Natürlich ist es da naheliegend, diesen Personen Tipps an die Hand zu geben, wie sie sich gegen solch eine Gewalt wehren können. Aber nun sind wir beim zentralen Problem, das sich durch diese Sichtweise bildet: Können FLINTA* etwas für die Gewalt, die gegen sie aufgrund ihres Geschlechts gerichtet ist? Das Erlernen von Selbstverteidigung und der Mut zu Abwehr sind zwar sehr zu befürworten, richtiger Gewaltschutz wäre es aber erst wenn man vor der Gewalt schützt und diese damit präventiv verhindert.


FLINTA*
Frauen, Lesben, Inter-, Transsexuelle- und Agender-Personen – ein inklusiverer Begriff für weibliche gelesene Personen


Dafür nun ein kurzes Gedankenexperiment: Man schließt normalerweise zuerst den Wasserhahn, bevor man die Pfütze am Boden aufwischt. Ist ja auch logisch, oder? Wenn der tropfende Wasserhahn nun aber über Jahre offenbleibt und sich niemand anschickt, ihn zu schließen, überschwemmt diese eine tropfende Wasserquelle irgendwann unser Zuhause. Dann helfen keine Eimer, keine Trocknungsgeräte, keine Putzlappen, um die Wassermassen vieler Jahre unter Kontrolle zu bekommen. Jeder Eimer, jede Badewanne wird irgendwann überlaufen. Was dann noch hilft ist sich ans Fundament zu begeben und sich die einzige wichtige Frage zu stellen: Warum tropft der Wasserhahn? Als Metapher bezogen auf das Problem der Femi(ni)zide und Gewalt also: Warum üben Männer Gewalt gegen Frauen aus?

Es wird viel über Macht, über Besitzgedanken, toxische Verhaltensmuster, Aggressionsprobleme, Alkohol- oder Drogenmissbrauch gesprochen. Sind das die Gründe für Gewalt an Frauen? Oder ist es nicht eher die Art wie wir unsere Söhne erziehen? Wie sie von Anfang mit Autos und Panzern spielen, wie man ihnen täglich sagt „Männer weinen nicht.“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ (Was nicht nur sexistisch, aber vor allem auch außerordentlich rassistisch ist!), wie sie „mit diesen Augen ja nur ein Casanova werden können“ oder stark, selbstbewusst, laut und durchsetzungsvermögend tagtäglich als positive Attribute gelobt werden. Ein Junge ist nicht eingebildet, wenn er stolz auf seine Leistungen im Fußball oder im Kopfrechenwettkampf ist – ein Junge ist selbstbewusst. Während Mädchen von Tag eins an lernen müssen, was es heißt bescheiden zu sein, demütig ihre Köpfe zu senken, sich ja nicht zu sehr im Völkerball anzustrengen, wird das andere Geschlecht schon im Unterricht vollkommen anders behandelt. Denn als Mädchen laut zu sein, bedeutet eingebildet und arrogant zu sein, als Mädchen bescheiden zu sein wird gelobt. Die Gesellschaft erzieht ihre Söhne zu starken Männern, die vor Tränen und Gefühlen, aber nicht vor Selbstbewusstsein, Stärke und möglicherweise auch Gewalt Angst haben. Grundsätzlich ist Stärke nichts Verwerfliches. Neben dieser Stärke fehlt jedoch vielen Gewalttätern, aber auch dem „nice guy “ oft das Vermögen, das eigene Verhalten zu reflektieren und sich seiner Grenzen und Kräften bewusst zu sein. Denn dieses Reflexionsvermögen, dieses stille Nachdenken trainiert die Gesellschaft ihren Söhnen einfach oft nicht oder viel zu wenig an. Sie werden zum Gegenteil gedrillt.

Und wenn wir schon von den „netten Typen“ (ein Filmtipp dazu: “Promising Young Woman”) sprechen: Wer kennt sie nicht? Die, denen „Equality“ wichtig ist, die stundenlang über den Gender Pay Gap und die Frauenquote reden können, ohne einmal kurz innezuhalten und sich zu fragen: „Bin ich wirklich der Richtige, um über diese Themen zu urteilen?“. Das bringt uns nämlich zum schlagenden Punkt: FLINTA* wird viel zu wenig zugehört. Ihnen wird der Raum für ihre Bedenken, ihre Ängste und Sorgen in einer Unterhaltung oder Diskussion oft nicht eingeräumt. Eher wird über Probleme philosophiert, welche zwar ohne Zweifel einen negativen Effekt auf ihr Leben haben, jedoch wird ihnen ihre Lebensrealität oft gezielt abgesprochen. Die meisten Frauen haben Angst, wenn sie im Dunkeln alleine nach Hause gehen müssen, spielen Telefonate vor oder teilen ihren Live-Standort mit Freund*innen um sicher an ihr Ziel zu kommen. Und das ist nur eine Angst von vielen, mit der sich FLINTA* herumschlagen müssen. Trotzdem werden diese Ängste selten wirklich verstanden oder gehört. Und wenn, dann werden sie oft noch mit einer gehörigen Portion Victim-Blaming kommentiert. Es scheint, als fiele es Männern sehr schwer, sich in diese Position der Angst hineinzuversetzen. Die meisten meiner Gespräche mit Männern über genau dieses Thema enden mit einem Kopfschütteln von meiner Seite und dem Gedanken: „Ihr werdet es niemals ganz verstehen können.“ Was also tun, um die Brücke zwischen diesen Lebensrealitäten zu schlagen?


Victim-Blaming: Einem Opfer einer (Gewalt-)Tat bezüglich ihres Verhaltens, Aussehens oder ihrer Kleidung eine Mitschuld an ihren Erlebnissen zu geben und so den Fokus vom Täter als Gewaltausübenden auf das Opfer als Mitschuldige zu lenken.


Den Ansatz sehe ich persönlich in einer neutralen Erziehung – für beide Geschlechter. Und vor allem auch in dem Akt FLINTA* den Raum zu geben um ihre Ängste aussprechen zu können, um dann Männern die Chance zu geben diese zu verstehen. Die Sozialisierung und Erziehung von Männern macht sie vermehrt zu Personen in Führungspositionen, zu Politkern, zu CEOs. Überrascht wird gesagt: „Ach wie schön, dass der Papa Zeit mit den Kindern verbringt, da kannst du dich ja in Ruhe um den Haushalt kümmern oder zum Friseur gehen!“ Ein wirklich unterstützender Vater und Ehemann/Partner. Wie schön, dass sich frau in der Zwischenzeit auch noch schön machen oder ihren häuslichen Pflichten nachgehen kann. Mir persönlich kommt bei diesen Sätzen nur eines hoch: die Galle. Verdienen Männer wirklich das Lob und den Respekt, wenn sie sich um ihre eigenen Kinder kümmern und Zeit mit ihnen verbringen? Was hat unser Denken so sehr beeinflusst, dass wir glauben, so ein Verhalten loben zu müssen, und es nicht als ganz selbstverständlich anzusehen? Die Antworten liegen für mich auf der Hand: unsere Erziehung, das Patriarchat, die Art und Weise wofür wir von Klein auf gelobt oder getadelt werden. Auch die Sozialisierung in unserem weiteren Leben soll uns gefühlt nur eines beibringen: Frauen sollen Kinder bekommen, ihre Workload zurückfahren und sich ihrer natürlichen Aufgabe hingeben, sonst sind sie keine liebenden Mütter. Auch an dieser Stelle kann man nur noch einmal betonen, doch endlich die traditionellen Familienbilder über Bord zu werfen.

Was ist nun aber der Ausweg aus der Misere? Wir müssen das Fundament abreißen. Wir müssen so tief graben, bis wir auf den Boden unserer Existenz aufschlagen und uns dort die Frage stellen was wir wollen. Jede*r einzelne von uns. Wollen wir eine Welt, in der Väter dafür gelobt werden was Mütter schon immer ganz selbstverständlich erledigen (müssen)? Wollen wir eine Welt, in der Männer ihre (Ex-)Partnerinnen töten und das von den Medien als Beziehungsdrama betitelt wird? Wollen wir eine Welt, in der es eine Frauenquote braucht und die Gesellschaft debattiert ob es vernünftig ist Menschen nur wegen ihres Geschlechts einzustellen, während hauptsächlich Männer in Regierungen weiter korrupt Posten an ihre Hilfsleute verschachern? Oder ist unser Ziel eine Gesellschaft, in der Männer weinen und in Therapie gehen können, in der es ganz normal ist, dass Väter in Karenz gehen, in der Gewalt nicht fast schon die einzige Lösung für Männer ist, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen? Wollen wir wirklich eine Welt für unsere Töchter, in der wir ihnen nicht erlauben können im Dunkeln joggen zu gehen oder alleine zu reisen oder offen über ihre sexuelle Lust oder ihre Periode sprechen zu können? Denn derzeit hört man öfter von Vätern, dass ihre Töchter bis 18 keine Beziehungen haben und Acht geben sollen, als dass sie ihre Söhne zu vertrauenswürdigen und einfühlsamen Partnern erziehen möchten.

All diese Machtstrukturen, so klein und unbedeutend sie vielleicht für manche scheinen mögen, gehören zusammen. Sie akkumulieren sich in der Gesellschaft oder in den Gedanken einzelner Personen zu einer Haltung der Überlegenheit, einer Haltung, in der Gewalt bis hin zu Morden an Frauen beziehungsweise FLINTA* nicht mehr wert sind als eine verschwindende Nachricht im News-Feed. Wie können wir uns diesem Problem stellen, wenn wir als Gesellschaft nicht willens sind, die Ängste und Sorgen von weiblich gelesenen Personen anzuerkennen? Wenn wir ihnen nicht den Raum und die Sicherheit geben, darüber zu sprechen? Wenn wir nicht auf die Ungleichheit und die Benachteiligung, die sie tagtäglich erfahren aufmerksam machen? Frauen eine Stimme in unserer Gesellschaft zu geben wird leider nicht reichen. Die Politik und alle gesellschaftlichen Strukturen müssen diese Stimmen auch hören und versuchen sie zu verstehen, um aktiv an einer Verbesserung der Kommunikation arbeiten zu können.

All das läuft auf ein grundlegendes Konstrukt unserer Realität zu: Macht und Kontrolle über Frauen aka das Patriarchat. Was wäre es nur für ein schreckliches Schicksal für einen Mann unter dem Pantoffel zu stehen oder die Hosen in der Beziehung nicht mehr anzuhaben! Solange wir Frauen vorschreiben können, wie sie auszusehen, sich zu verhalten, sich die Nägel zu lackieren oder wie sie auf ihre Kinder aufzupassen haben, können wir ihnen auch erzählen, dass ein aufrechter Gang und ein Selbstverteidigungskurs sie vor einer Vergewaltigung, Belästigung oder vor ihrem eigenen Tod schützt.

Easy as that: Sei einfach selbstbewusst, dann wirst du nicht ermordet! Logisch, oder?


© Beitragsbild: Athena (pexels)

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