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Betreff: Beschwerde und Bitte um Information

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Sehr geehrtes Leben,

mein Name ist Claudia, ich bin 21 Jahre alt und studiere in Innsbruck. Ich möchte hiermit meine Beschwerde einreichen, und gleichzeitig einige Informationen zu Ihren Bedingungen und Statuten einholen. Meine Beschwerde betrifft meine aktuelle Situation: Es ist Mittwoch halb drei in der Nacht (2.34 Uhr) und ich liege wach, obwohl ich müde bin. Wie kann das sein? Liebes Leben, wie soll ich nicht müde sein, von all dem Weltschmerz, und liebes Leben wie soll ich schlafen können bei all dem Weltschmerz?

Und liebes Leben, warum kotz` ich mich selbst schon wieder so an, wie ich hier im Dunkeln liege, das Gesicht von dem bläulichen Licht beschienen, von dem ich dann am Ende nur noch weniger schlafen kann, nur um herauszufinden, ob ich das hier noch kann. Was ich mit „das hier“ meine? Gute Frage: Ehrlich sein, vielleicht. Ehrlich sein zu mir und anderen. Ehrlich sein ist einfacher um 2.35 Uhr in der Früh, alleine in seinem dunklen Zimmer, in dem man die Umrisse der bekannten Welt um sich herum zu bewegten Schattenbildern verschwimmen sieht. Die Gedanken kreisen um immer die gleichen Themen, um immer die gleichen Szenarien, sind nie anderswo als innerhalb der sterblichen Isolation eines Menschen zirkulierend,wieder und wieder von den Grenzen des Seins abprallend. Erst langsam, dann immer schneller und schneller, bis es einen alles ins ich aufsaugenden Strudel erzeugt , einen Tornado, eine rohe Naturgewalt, die weder die Worte, noch die Konzepte von gut und böse kennt, weil sie bereits weit vor ihnen ihren Platz in der Welt eingenommen hat. Und dann habe ich das Gefühl jeden Moment explodieren oder implodieren zu müssen, doch es passiert nie. Ich steh also morgens (okay, mittags) auf, öffne die Jalousien meines Fensters und blicke auf die gleiche verwucherte Veranda des Hauses gegenüber, sehe die gleichen vertrockneten Blätter auf dem Dach wie jeden Tag. Und wieder sitzt da niemand und wieder denke ich: „Hm, da habe ich noch nie jemanden gesehen. Ob da wohl überhaupt jemand wohnt?“ Die einzige sichtbare Veränderung ist die Anzahl der sich dort befindlichen Weinflaschen. Ein stetiges Steigen, das sich mit abruptem Verschwinden, abrupten Abwesenheit der Flaschen abwechselt, wie der kaum merkliche Alterungsprozess seines eigenen Gesichtes, der einem nur dann bewusst wird, wenn man mal wieder ein Bild von früher sieht und merkt, dass man die Person, die man da mal ganz selbstverständlich, aber meist weniger selbstbewusst, war, plötzlich oder weniger plötzlich nicht mehr ist. Und dann fragt man sich, wenn ich das nicht bin, und noch nicht das bin, was ich gerne wäre irgendwann, was oder wer bin ich dann? Und trotzdem schreibe ich in die nächste Bewerbung wieder: „Ich bin motiviert, begeisterungsfähig und anpassungsfähig.“ Bin ich das? Keine Ahnung, mitunter vermutlich manchmal. Aber da muss doch irgendwo noch mehr sein  – ich will so gerne mehr sein. Da muss doch irgendwo Meer sein. Ich will so gern irgendwo am Meer sein. Manchmal will ich so gern nicht mehr ich sein, oder nicht mehr sein müssen als ich. Manchmal fange ich um 2.39 Uhr in der Nachtan  mich an meinen eigenen Worten aufzuhängen, mich in ihnen zu verstricken und sie zu einem engmaschigen Netz zu knüpfen, in dem ich mich wie in einem Kokon verstecken will. In der Hoffnung, morgen ein Schmetterling zu sein, könnte ich hier jetzt weiterschreiben, aber die Metapher des Schmetterlings ist billig und irgendwie ausgelutscht. Denn eigentlich ist es nicht der Schmetterling, der hier so groß gepriesen werden soll, denn es braucht keinen Mut, um mit vorhandenen Flügeln loszufliegen. Die Raupe weiß nicht was da kommen wird, die Raupe weiß nicht, ob es besser oder schlechter oder vielleicht auch einfach das Ende ist, was da am anderen Ende des Zeitstrahls nach der Verpuppung auf sie wartet. Sie verstrickt sich, versteckt sich und fügt sich wie Camus‘ Sisyphos ihrem Schicksal –  sie wird ihr eigener Prometheus. Also ein Hoch auf die Raupe. Ein Hoch auf all die sich selbst oft Verstrickenden, ständig in verzwickte Situationen Verwickelten. Ein Hoch auf die sich stetig weiter Entwickelnden, manchmal fast an ihren eigenen Verhedderungen Erstickenden. Uns gehört die Nacht und die Hoffnung auf das Fliegen. Uns gehört die ganze Bandbreite an Emotionen und Höhen und Tiefen, Weiten und Engen, über die man den Sammelbegriff „Leben“ gespannt hat.

Ich möchte mich bereits im Vorhinein vielmals für die Antwort bedanken, liebes Leben, von der ich nicht sicher bin, ob ich sie kenne oder nicht, oder je bekommen werde oder nicht, und die wohl an keinem Tag, in keiner Sekunde des Lebens die gleiche sein wird. Im Anhang nimmt das Leben s(einen) Lauf und die Narben auf meiner Haut sind Zeugnisse von gemachten Erfahrungen.

Mit freundlichen Grüßen

Claudia

Foto: Claudia Ploner

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