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Rezension: Kalynn Bayron. Cinderella is Dead

© pixabay

Dieses Märchen ist eines von klarem Verstand und Solidarität. Das war längst überfällig. 

© BLOOMSBURY Publishing Plc
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Kalynn Bayron verortet die Handlung ihres Romans 200 Jahre nach dem Märchen von Cinderella. Die erzählte Welt ist nach wie vor eine Märchenwelt, in der jedoch eine Wendung eintritt. 

Der König des Reichs Mersailles hat die Geschichte von Cinderella zu einem Dogma erhoben, das alle jungen Frauen dazu verpflichtet, ab ihrem sechzehnten Lebensjahr auf einen großen Ball im Königsschloss zu gehen, um dort von Männern erwählt zu werden und anschließend eine Ehe mit ihnen einzugehen. Wenn sie es nach drei Bällen nicht geschafft haben, von einem Mann als zukünftige Ehefrau ausgesucht zu werden, steht ihnen Gefängnis und Verbannung bevor. 

Die lesbische Protagonistin Sophia lebt in Mersailles‘ Hauptstadt Lille. Sie hat ihr sechzehntes Lebensjahr erreicht und sträubt sich dagegen, den königlichen Vorgaben zu folgen. Ihr ganzes bisheriges Leben ist es ihr bereits schwergefallen, sich der vorgefertigten Rolle des Mädchens bzw. der Frau zu fügen und nun bedeutet der ihr bevorstehende Ball die Trennung von ihrer heimlichen Freundin Erin. Am Tag des Balles kann Sophia nicht anders als sich gegen den sexistischen übergriffigen Umgang der Männer von Lille zu wehren. Sie schafft es, dem Schloss zu entkommen und ist von nun an auf der Flucht. In ihrer Orientierungslosigkeit trifft sie ihre zukünftige Weggefährtin und Partnerin Constance, die ihr offenbart, dass das Cinderella-Märchen konstruiert ist, um die alleinige Macht des Königs zu wahren. Die Wahrheit sieht ganz anders aus. Nun im Bilde über die tatsächlichen machtpolitischen Umstände von Mersailles ändert sich Sophias Position: Sie flüchtet nicht mehr, sondern fasst den Plan den König auszuschalten, um die miserable Situation der Bevölkerung des Königreichs zu beenden. 

“When I sat down to draft Cinderella I started with a few questions: What effect do the fairy tales we are told as children have on us? What happens to our view of the world when the characters in these stories don’t look like us or love like us? When do we get to be the heroes of our own stories?“ (Bayron 2020: 387)

Indem Bayron sich diese Fragen stellte, hat sie es geschafft eine Geschichte zu erzählen, die das Wesen des Märchens wahrt, ohne die ihm oftmals immanenten sexistischen und rassistischen Narrative zu reproduzieren. Ihre Protagonistin sowie die Mehrheit der anderen Figuren des Romans, sind People of Colour, was in Märchen oder Fantasy-Erzählungen bekanntlich selten vorkommt. Diese  Art von Repräsentation, deren mehrheitliches Ausfallen ein Manko in der Landschaft der Jugendliteratur darstellt, ist nicht zuletzt bei einem jungen Publikum, das sich in der Lektüre wiederfinden können sollte, von hohem Stellenwert. 

Bayron erzählt Cinderella nicht um, sondern spinnt die Geschichte weiter, bis die Sachverhalte sich so ändern, dass das alte Märchen überholt ist. Zusammen mit Sophia erkennen die Lesenden den manipulierenden Charakter von Märchen, die die Unterwerfung von Frauen propagieren. So bemerkt Sophia unter anderem auch, dass die Iterabilität von Normen mitunter durch ihre ständige Wiederholung durch Autoritäten – hier ist es der König – und die Allgemeinheit etablieren kann: “‘And now look,‘ I say. ‘All these years later, people take it [die Cinderella-Geschichte, Anm. d. Redaktion] as fact. It’s as if repeating the lie over and over makes it true.‘“

Diese Erkenntnis führt Bayron auf sehr zugängliche Weise herbei, indem sie die Rezipient*innen über konkrete Beschreibungen an Sophias Gefühlen teilhaben lässt. Diese möchte sich weder von ihrer Freundin trennen noch sich verstecken müssen. Ebenso bemerkt sie, dass ihre Möglichkeiten als weiblich sozialisierte Person in puncto Bildung oder der freien Beweglichkeit in der Stadt sehr limitiert sind. Wie auch in unserer Realität der Fall, kann queere Identität, hier als Auslöser für das Erkennen gesellschaftspolitischer Ungerechtigkeiten und des daran anknüpfenden Widerstand dagegen, gelesen werden. Sophia bekommt diese Ungerechtigkeiten sehr früh und auf eine grundlegende, unsubtile Weise zu spüren, was in ihr den oben elaborierten Prozess anstößt. 

“I wrote it for you, for us. Be a light in the dark.“ (Bayron 2020: 389)

Cinderella is Dead ist demnach ein doppeldeutiger Titel: Einerseits ist Cinderella im Roman vor 200 Jahren gestorben, auf zweiter Ebene aber hat Cinderella als Märchen den Anspruch verloren, an junge Menschen weitergegeben zu werden. Dafür gibt es Geschichten, wie die von Kalynn Bayron, die unterstützenswerte Prinzipien vermitteln und junge Lesende gegebenenfalls dazu motivieren, für die eigenen Bedürfnisse sowie die ihrer Mitmenschen einzustehen. Mit Bayrons Sophia haben wir eine Heldin of Colour an der deutlich wird, dass Geschick, Eigenständigkeit, Schönheit und Stärke einander nicht ausschließen. 

Roman. 

London: BLOOMSBURY YA, 2020

400 Seiten, £ 7.99

ISBN: 9781526621979


Titelbild: © Pixabay

Buchcover: © BLOOMSBURY Publishing Plc

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