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Ich mag Frieden.

Als Russland im Februar dieses Jahres einen großangelegten Krieg startete und in die Ukraine einmarschierte, hat jede*r etwas zu sagen gehabt. Die Zeitungen haben sich mit Informationen überschlagen, Social-Media Kanäle sind übergelaufen mit Erklärungsvideos, die darlegen sollten wie er zustande gekommen ist, und auch in meinem Freundeskreis hat es nur dieses eine Thema gegeben. 

Während jede*r Bilder auf Instagram geteilt und Solidarität mit der Ukraine gezeigt hat, habe ich geschwiegen. Es wurden kleine Kinder mit Teddybären in der Hand neben einem von Bomben zerstörtem Krankenhaus fotografiert. Ich habe weitergeklickt. Und mich dafür geschämt. Ich habe weitergeklickt, als ich Videos von Eltern gesehen habe, die sich weinend von ihren Kindern verabschieden, um wenigstens ihnen eine Zukunft bieten zu können, und ich habe auch die Bilder ignoriert, die die mit Blut überströmte Männer zeigen, wie sie eine Leiche aus einem eingestürzten Wohnhaus tragen. Ich habe mich geschämt. Mein Kopf hat mir gesagt: „Schau dir das an. Schau es dir genau an, weil man es sehen muss, damit man es fühlen kann.“ Aber ich habe es nicht geschafft. Und ich habe es trotzdem gespürt. Sogar bevor ich wieder zu den Bildern zurückgegangen bin und mich gezwungen habe, den Ausdruck im Gesicht des Kindes anzusehen, das Weinen seiner Eltern zu hören und die Hand der Leiche zu begutachten, die über die Trage hängt. Ich habe es auch schon davor gespürt. Ein neues Gefühl. 

Ich denke an Krieg und daran, wie das Wort mit einem Mal ganz anders schmeckt. Weniger verstaubt, und dennoch wie Asche, die man gerade einatmet. Wie schnell sich die Bedeutung von einem Wort ändern kann, wenn man es nur oft genug sagt. Krieg. Früher habe ich es mit Vergangenheit verbunden. Die Römer haben Krieg geführt, Napoleon ebenso und Hitler. Erst jetzt habe ich erkannt, dass ich das Wort vorwiegend aus Geschichtsbüchern oder von den Kindheitserinnerungen meiner Großmutter kenne. 

Auch wenn sich das für mich immer so unendlich weit entfernt angefühlt hat, habe ich erst in den letzten Monaten verstanden, wie nah er doch ist. Schallenberg hat gesagt, wir seien vom Frieden verwöhnt. Die Aussage hat mir zugesetzt, weil es einen negativen Beigeschmack hat. Verwöhnt. Wie ein kleines Kind, das immer das bekommt, was es will. Wie kann ich nicht von Frieden verwöhnt sein? Wieso muss ich mich an den Krieg gewöhnen? Die Welt schmeckt salzig, wenn ich die Nachrichten lese. Sie schmeckt nach salzigen Tränen, die mir aus Mitgefühl über die Wangen ringen, wenn mir eine aus der Ukraine geflohene Studentin von ihrer verlassenen Wohnung erzählt und ihr dann die Worte im Hals stecken bleiben, weil sie an ihre zurückgelassenen Zimmerpflanzen denkt. Während die Welt darüber diskutiert, wie man am besten mit der Situation umgehen könnte, beginne ich zum ersten Mal in meinem Leben zumindest im Ansatz zu verstehen, was es bedeutet, sich nicht sicher zu fühlen. Ich will wieder Kind sein, wo die Welt noch heil und ganz war und wo Wünsche so einfach zu erfüllen waren. Krieg. Es fühlt sich noch immer etwas fremd an. Dieses Wort. Es kratzt noch immer im Hals, aber ich merke, wie es Form annimmt. Krieg. Vielleicht habe ich mich auch schon einfach daran gewöhnt. Wie schnell so etwas geht. 

An Frieden erinnere ich mich. Daran könnte ich mich wieder gewöhnen.

Ich mag Frieden.

Photo: Dara Shetty

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