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Der Senf dazu: Schullektüre

Wie unterschiedliche Zugänge zu Büchern beeinflussen, welche Geschichten uns berühren – und warum es wichtig ist, jungen Menschen Raum für individuellen Lesegeschmack zu lassen.

„…aber in der Hauptschule, da hätte ich dieses scheiß Buch mit diesem kleinen Prinzen lesen sollen…“ lauteten die Worte meines Bandkollegen bei der gestrigen Probe und um ein Haar wären es seine letzten gewesen. Ich konnte förmlich spüren, wie mein Herz zersplitterte und sich ein wilder, durchs Mikrofon verstärkter Kampfschrei aus meiner Kehle löste. Wäre diese Banausie nicht im nächsten Satz revidiert worden („Ich hab das Buch ja nur bis zur Seite 23 gelesen, vielleicht is es ja ganz okay“ und ähnliche, nur bedingt akzeptablere Frechheiten), so wäre nicht nur mein Herz, sondern auch seine geliebte Les Paul in tausend Trümmern gelegen.

Als jemand, der schon als Kind Bücher verschlang wie Faschingskrapfen, bin ich immer wieder erstaunt, wie sehr sich mein Zugang zu Büchern von dem Anderer unterscheidet. Aber klar, der Peter dachte sich nichts dabei, als er da vom Prinzen sprach als wär’s einer dieser Romane, die man in der Trafik erwerben kann. In seinen frühen Teens hatte er andere Sachen im Kopf als Bücher.

Und verständlich. Wer nicht in seiner Kindheit schon eine Liebe zur Literatur entwickelt, entdeckt sie auch später nicht mehr. Nachdem Peter seine Zeit lieber an der Gitarre als über Büchern verbrachte und seinen ersten Joint rauchte, wurde er am Extremum der Pubertät dazu gezwungen, ein augenscheinliches Kinderbuch über einen kindlichen Prinzen zu lesen, welcher von Stern zu Stern reist und mit Füchsen und Rosen spricht. Dass sich mein Kollege an de Saint-Exupérys Meisterwerk als Schwachsinn erinnert, ergibt sich von selbst. Die richtige Lektüre zur falschen Zeit ist offensichtlich kontraproduktiv, denn warum sollte Peter (von Gewaltandrohungen meinerseits abgesehen) dem Kleinen Prinzen noch eine Chance geben und in Folge seine Meinung zwangsläufig ändern?

Wer als Kind also andere Hobbys als das Lesen entwickelte, hat in der digitalisierten Welt keinen Grund mehr, von sich aus ein Buch in die Hand zu nehmen. Informationen zu jedem beliebigen Thema können viel zielsicherer, aktueller, billiger und schneller durch das Internet recherchiert werden als durch ein Sachbuch. Wer soll bei einem Überangebot an Netflix-Serien und TikTok-Videos zur abendlichen Entspannung zu einem Roman greifen? Lesen ist anstrengend und langsam. Wer nicht schon früher diese Magie erfuhr, die einem guten Buch innewohnt, müsste sich dazu zwingen.

Dabei müssen Nicht-Lesende nicht nur ihre Gleichgültigkeit, sondern auch ein Trauma überwinden, denn die Furcht vor den gelben Heftchen sitzt tief. In der Schule, da wurde der Werther und die Bovary gelesen, im aufregendsten Fall noch Homo Faber, allesamt aber anstrengende und schließlich fast furchterregende Werke. Ein Gutteil der Klasse begnügt sich mit einer durch Spielzeug inszenierte Zusammenfassung oder befragt ChatGPT. Jene, die sich tatsächlich durch die ewig scheinenden Seiten quälen, können sich schon im nächsten Monat nicht mehr an das Gelesene erinnern, quasi Bulimielesen. Der Auftrag humanistischer Bildung gilt aber als erfüllt, der Lehrstoff als behandelt.

Der Deutschlehrer meines Bruders verfolgte da einen anderen Ansatz. Aus einer Liste mehrerer Werke modernerer Literatur sollten sich die Schüler*innen zwei Titel aussuchen und behandeln. Neben „Fabian“ von Erich Kästner, die titelgebende Hauptfigur ein Namensvetter meines Bruders, wählte er noch Haruki Murakamis „Wilde Schafsjagdt“, da er Schafe mochte und das Buch nur einige hundert Seiten stark ist.
Die Schafsjagdt war Fabians (mein Bruder) letztes Buch für die nächsten Jahre, denn Murakamis hypermoderner Stil (ich erinnere mich an eine dreieinhalb Seiten lange Beschreibung der Ohren einer Hauptfigur) war für ihn schwerer zu verdauen als zwanzig Reclamhefte.

Vielleicht ist es aber tatsächlich besser, man überlässt jungen Menschen die Wahl ihres Lesestoffes selbst. Natürlich angeleitet und unterstützt von erfahrenen Literatur-Enthusiasten – damit sie nicht in die Fänge von Groschenromanen und Schmonzetten geraten oder vom Surrealismus eines Murakamis in die Flucht geschlagen werden. Wenn nur ein*e Schüler*in sie Literatur für sich entdeckt, ist doch schon viel gewonnen.

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