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Der Senf dazu: Spotify Wrapped

Spotify Wrapped ist da. Es ist fast schon Tradition: Sofort bricht der obligatorische Schwall an Screenshots von den mäßig interessanten Hörgewohnheiten entfernter Bekannter über unsere Timelines herein.

Der Streaminganbieter erlaubt uns auch dieses Jahr einen hübsch verpackten Einblick in die akribische Analyse der Daten seiner 440 Millionen Nutzer:innen.
Aber ich nehme mich keineswegs aus. Auch ich freue mich über das Eintreffen des Jahresrückblicks, würde sich doch zeigen, ob ich meinen Vorsatz für 2023 einhalten konnte. Letztes Jahr errechnete ich, bei meinem aktuellen Abo etwa 48.000 Minuten an Musik streamen zu müssen, damit Spotifys Auszahlungen an die Künstler:innen höher sind als mein monatlicher Beitrag. Da ich mein Ziel mit Leichtigkeit erreichte, gelang es mir, über diesen Weg fast 13€ in die Taschen der Musiker:innen zu leiten. Ich grinse. Ein unbestreitbarer Coup gegen das Establishment. Fuck the system.

Ich scrolle weiter und mir wird Merchandise einiger meiner meistgehörten Künstlerinnen zum Kauf angeboten – nur für „Top Fans“ bestellbar, versteht sich. System of a Down verkauft ein fluoreszierendes und auf 500 Stück limitiertes Poster für ganze 60 Dollar an Metalfans mit tiefer Tasche, noch dazu im Stil von “Steal this Album!”. Billie Eilish bietet dagegen ein lasziv bedrucktes T-Shirt im Weihnachtsstil an. Auch wenn das Leiberl für 45 Tacken die reinste Okkasion darstellt, sollte man sich als feministischer Mann damit lieber nicht erwischen lassen. Ob eine Datenanalyse ergab, dass Billie Eilish vorwiegend an eine weibliche Zielgruppe vermarktet?

Die unversiegliche Goldmine

Dass alle Daten gespeichert, analysiert und die Rückschlüsse dann für das Maßschneidern von Werbung verwendet werden, ist allseits bekannt. Google wurde schließlich nicht durch den Verkauf von ein paar Millionen Handys im Jahr zu einem der mächtigsten Unternehmen der Welt und liest unsere E-Mails nicht nur, um seine Spam-Filter zu verbessern.
Dennoch ignorieren wir die Implikationen und die Gefahr für das selbstbestimmte Leben, die daraus folgt. Natürlich wäre es einfach, die Position der großen Tech-Konzerne zu übernehmen und sich einzureden, man würde doch lieber Werbung für Produkte sehen, die man ohnehin kaufen möchte, als Reklamen für andere Artikel.

Wäre es aber nicht für die ohne die fein abgestimmte, datengetriebene Werbung, würden wir viele der Produktgruppen gar nicht in Betracht ziehen. Ich möchte euch den Ursprung dieser These anhand eines persönlichen Beispiels näher bringen:
Als Software Engineering-Student verbringe ich einen Großteil meines wachen Daseins vor dem
Computer. Täglich hämmere ich seitenweise Text über meine Tastatur in verschiedenste Dateien. Als irgendein Algorithmus beschloss, mir Werbung für Computerkeyboards anzuzeigen, war das kein Zufallstreffer.

Nun funktioniert mein momentanes Eingabegerät zwar noch makellos, dennoch reizen mich die
schönen, mechanischen Tastaturen mit ihren farbigen Tastenkappen und basslastigen Anschlaggeräuschen. Während ich mich seit zwei Jahren schmachtend durch die Online-Shops
klicke und meinem Keyboard den Tod wünsche, um einen Kauf rechtfertigen zu können, ist diese
Faszination für die meisten Menschen gewiss nicht nachvollziehbar.
Und nicht einmal ich selbst weiß genau, warum ich mich für diesen völlig trivialen Gebrauchsgegenstand interessiere. Bei mir vermutete ein neuronales Netzwerk wohl fruchtbaren Boden, verpflanzte zielgenau wie ein Scharfschütze des Kommerzes seinen Samen, nährte ihn mit subtilen Werbebannern und ich bin sicher, irgendwann werden die Bemühungen Früchte tragen.

Mit unserer Macht ist nichts getan.

Natürlich muss man nicht zuschlagen, wenn man nicht will. Es besteht allerdings die reale Gefahr, dass unsere Wahrnehmung von Produkten, Marken und unsere generellen Präferenzen auf subtile Art verändert werden. „The best minds of my generation are thinking about how to make people click ads“, sagte Jeff Hammerbacher, ein ehemaliger leitender Data Scientist bei Facebook. Mir fiel schon frühzeitig auf, dass mein plötzlicher Wunsch nach einer neuen Tastatur keinen natürlichen Ursprung hatte – doch wie oft befriedigen wir wohl auf diese Weise genährte Bedürfnisse, ohne davon Notiz zu nehmen? Die Idee, man könne sich den Implementierungen der Armeen an brillianten FAANG-Entwickler:innen und Supercomputer-Flotten in einem ebenbürtigen Kampf stellen, halte ich für maßlos arrogant.

Wie die Zirkustiere

Doch zurück zu Spotify, denn dieser ist schon ein Pfiffikus. Während wir sie anderswo kritisieren,
feiern wir die rigorose Datenanalyse des Streaminganbieters der Herzen jedes Jahr mit einer
gigantischen, kostenlosen Werbeaktion, indem wir uns in allen sozialen Netzwerken mit unserem einzigartigen Musikgeschmack brünsten. Mit den personalisierten Merchandise-Shops wird uns der gläserne Mensch auf dreiste Weise vorgeführt, durch Statistiken wie die „Top Artists“ wird Exklusivität vorgegaukelt und mit limitiertem Merchandise direkt monetarisiert. Während sich Daniel Ek in irgendeinem Penthouse in Stockholm ins Fäustchen lacht, lassen wir uns einlullen von „Artist Messages“ und „Me in 2023“-Charakteren.

Dabei ist der Hype doch wirklich nicht notwendig. Wenn ich mir die Jahresrückblicke mal genauer ansehe, meinen eingeschlossen, so erlebe ich keine Überraschungen, bis auf erschreckende Uniformität. Egal was uns Spotify glauben lassen will, besonders originell und „underground“ sind unsere Geschmäcker meist nicht – sonst gäbe es ja keinen Mainstream. Und man sehe, mit dem Wissen um die eigene Fadheit fiel es mir auch recht leicht, über den ganzen Text hinweg Jacob Collier als meinen „Top Artist“ vor euch geheim zu halten.

(Titelbild mit DALL-E generiert.)

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