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Transgenerationale Traumata – Sex, wenn deine Eltern beide vergewaltigt wurden

Midjourney

Triggerwarnung: Sexuelle Gewalt

Ich höre ihr schweres Atmen in meinen Ohren. Spüre die Küsse auf meinem Hals und die wandernden Hände auf meinem gesamten Körper. Unsere Kleidung ist im Zimmer verteilt und ihr nackter Körper auf mir ist so präsent, wie er es nur sein kann. So weit, so gut. Bis hierhin ist mir das alles sehr vertraut. Ich habe es in unzähligen Filmen gesehen. Wildes Küssen, das lustvolle Entkleiden, Körperteile ineinander verwoben, lautes Atmen und ein Beben, das die unendliche Lust der beiden Personen widerspiegelt. Aber das Beben, das meinen Körper überkommt, scheint die Situation nicht zu spiegeln. Mein Herz pumpt auf Hochtouren und ich merke, wie ich anfange zu schwitzen. Und dann zu zittern. Verzweifelt versuche ich in dem Moment zu bleiben, doch mein Geist scheint sich immer weiter von diesem Knäuel aus Haut und Knochen zu entfernen. Reflexartig führe ich all die Bewegungen aus, die von mir erwartet werden. Doch irgendwie verliere ich den Halt. Angst steigt in mir auf. Ich habe Angst vor dem, was als Nächstes passiert. Möchte gar nicht, dass es weiter geht. Beziehungsweise eigentlich schon. Aber am liebsten mit mir in Vollnarkose. Dann ist es wenigstens passiert, und ich kann allen davon erzählen, dass ich mal wieder mit jemandem geschlafen habe. Dass ich normal bin.


„Alles gut bei dir?“. Ihre Frage zerrt meinen Geist für einen Moment zurück in das dunkle Zimmer. Ich will nicht antworten, will nicht zugeben, dass absolut gar nichts in Ordnung ist. Ich ringe mir ein „Ja klar“ ab. „Lass es uns hinter uns bringen“, ergänze ich im Stillen. Doch auch wenn sie es nicht hören kann, sie scheint es zu spüren. Nicht zuletzt wahrscheinlich an meinem erschlafften Penis. Sie rollt von mir runter und ich bin mir sehr sicher, dass sie meinen Blick sucht. Gequält öffne ich die Augen und schaue sie an. Auf ihrem Gesicht finde ich all die Dinge, die ich nicht finden möchte: Unsicherheit, Verwirrung. Wobei ihres sicher weniger verwirrt als meines ist – so sehr ich auch versuche, eine starre Fassade zu erhalten. „Bist du dir sicher? Ich habe das Gefühl, als würde ich dir irgendetwas antun.“ Wie zur Hölle bringe ich ihr bei, dass nicht sie mir etwas antut, sondern ich mir selbst. Das Gefühl, sie in ein Problem zu verwickeln mit dem sie nichts zu tun hat, steigt in mir auf. Eigentlich möchte ich ihr alles erklären. Aber ich weiß gar nicht, was ich ihr genau erklären soll. Ich weiß gar nicht, was mit mir passiert.
Ich stammele irgendeine Erklärung. Irgendwas von schlechten Erfahrungen mit Sex. Ich will ihre Gefühle nicht verletzen. Ich will nicht, dass sie denkt, dass sie daran schuld ist. Ich schäme mich dafür, wer ich bin und was gerade passiert ist und hoffe, dass sie niemandem davon erzählt. So etwas passiert einem Mann doch nicht.

Vielleicht würde diese Situation gar nicht so seltsam erscheinen, wenn sie mir mit 16 Jahren passiert wäre, und ein oder zwei Mal. Aber zu diesem Zeitpunkt war ich 24 und habe ähnliche Situationen schon oft durchlebt.

Vor sieben Jahren habe ich erfahren, dass meine Mutter als Kind etliche Jahre von ihrem Vater und Nachbarn vergewaltigt wurde; drei Jahre später, dass mein Vater von seinem Vater vergewaltigt wurde. Dieses Wissen hat sehr viele Dinge in unserem Leben erklärt. Seitdem ich denken kann, hatte meine Mutter Schlafprobleme, Migräne und Wutanfälle. Typische Folgen von sexuellem Missbrauch. Sie gerät leicht in den Zustand des sogenannten „Hyperarousals“ (Anke Hefen): Ein Zustand dauerhaften Stresses, durchzogen von Ängsten und Sorgen, welcher in absoluter Erschöpfung endet. Zusammen mit der Schlaflosigkeit und Erschöpfung ist sie nicht in der Lage zu arbeiten oder in die Zukunft zu planen. Bereits der Alltag bedeutet ungeheure Anstrengungen für sie.
Mit meinem Vater hatte ich ab ca. sechs Jahren bis in das späte Teenageralter keine Beziehung. Er hat sich ab dem Alter aus meinem Leben zurückgezogen, ab dem ihn sein Vater missbraucht hat. Aus der irrationalen Angst, mir dasselbe anzutun.

Diese Dinge erklären mir einige meiner eigenen Unsicherheiten. Mein Harmoniebedürfnis und meine Angst vor Konflikten beispielsweise. Traumata können zu epigenetischen Veränderungen im Erbgut eines Menschen (Epigenetik | Max Planck Institut für Psychiatrie (mpg.de)) führen. Erbgut, das an die nächste Generation weitergegeben wird. Die Folge ist die bereits erwähnte dauerhafte Fehlregulation des Stresshormonsystems. Betroffene leiden an einer lebenslangen Behinderung im Umgang mit belastenden Situationen. Folgende Angststörungen sorgen in meinem Fall für eine Flucht aus belastenden Konflikten und die Bewältigung erhöhten Stresses im Zusammenhang mit Drogen und Alkohol. Zudem werde ich auffallend regelmäßig krank, dank einer entstehenden Immunschwäche (Folgen von dauerhaftem Stress: Erkrankungen und Symptome | ERGO). Im Alter von 14-22 gab es beinahe keinen Monat, in dem ich nicht für drei bis fünf Tage mit Fieber im Bett lag.

Zudem hat mir eine männliche Bezugsperson gefehlt, weswegen ich wahrscheinlich nie die stereotypische Rolle eines Mannes einnehmen konnte. Die Männlichkeitsideale im Sinne eines Strebens nach Macht, Prestige und Überlegenheit sind an mir vorbeigegangen. Nicht, dass das schlimm ist, auf gewisse Weise bin ich dankbar dafür. Es sind meiner Ansicht nach toxische Ideale, welche viele Missstände in unserer Welt hervorrufen. Aber es macht das Leben in unserer heteronormativen Gesellschaft nicht einfacherer − ich wurde häufig als seltsam erachtet und ausgeschlossen, weil ich diesen Idealen nicht nachging. Meiner Meinung nach erklärt das Verhältnis meiner Eltern auch, warum ich immer wieder mit Frauen zusammenkomme, die sexuell missbraucht wurden. Ich glaube, dass ich womöglich unterbewusst die Konflikte meiner Eltern zu lösen versuche. Das ist nur eine Vermutung, allerdings ist es auffallend, dass beinahe jede meiner Partnerinnen sexuelle Misshandlung durchleiden musste. Hier möchte ich einmal erwähnen, dass laut einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur aus dem Jahr 2014 jede dritte (!!) Frau über 15 Jahren in Europa sexualisierte und/oder körperliche Gewalt erlebt hat. Eine unglaublich hohe Zahl. Eine Zahl, die mich wütend auf die gesamte Männerwelt macht, denn so gut wie alle Täter sind männlich Studie – Sexuelle Gewalt in der Familie (aufarbeitungskommission.de).

All diesen Erklärungen zum Trotz, stand ich immer noch fragend vor meinem gestörten Verhältnis zu Sex. Erst vor kurzer Zeit habe ich mit meinem Vater darüber reden können. Ein längst überfälliges Gespräch mit einem Menschen, dem das Problem bekannt ist. Das Gespräch hat mir geholfen die Augen zu öffnen und zu erkennen, dass ich keine Scham verspüren muss. Das Gefühl falsch zu sein, unfähig einen so grundlegen Akt zwischenmenschlicher Beziehungen auszuführen, hat mich belastet, und ich habe mich als Grund dafür gesehen. Das Gespräch hat mir gezeigt, dass ich nicht einfach falsch bin. Ich habe mich belesen und herausgefunden, dass das Phänomen transgenerationaler Traumatisierung – vererbte Traumata − nicht untypisch ist (Silke Bachmann). Folgen traumatischer Erlebnisse werden häufig innerhalb von Generationen weitergereicht, seien es Posttraumtische Belastungsstörungen oder auch leichtere Symptome. Eine erhebliche Last wurde von mir genommen.

Die Leichtigkeit, die ich danach verspürte, ist nicht zu unterschätzen. Ich kann es inzwischen reflektieren, kommunizieren und aktiv an der Überwindung meiner Ängste arbeiten. Unglaublich hilfreich war außerdem, dass sich meine Eltern beide in Therapie befinden. Erst dadurch haben sie Zugriff auf die Erinnerungen erhalten. So schwer es ihnen, meinen beiden Schwestern und mir auch gefallen ist über diese Dinge zu reden, so hat das Wissen und die Kommunikation darüber viel verbessert. Meine Großeltern haben nie über die vergangenen Taten gesprochen. Der Rest der Familie hat das Geschehene überdeckt und vor der Außenwelt versteckt. Als meine Eltern es schafften, die Verdrängung zu überkommen und Zugang zu dem Wissen um ihre Misshandlung erlangten, versuchten sie mit den Parteien der Familie zu reden. Keiner wollte davon hören. Es wurde entweder abgestritten oder wütend reagiert. Niemand wollte sich mit diesen Gewalttaten beschäftigen. Ein übliches Geschehen.

„Trotz Offenlegung, familiärem und öffentlichem Schweigebrechen durch die Betroffenen bleiben die Täter*innen in den Familien integriert, während die Betroffenen alleingelassen werden, als unbequeme Störenfriede die Last der Aufarbeitung alleine tragen. Diese aktive Vertuschung und Leugnung, das Bagatellisieren, das Wegsehen und die Ignoranz wird in Familien von existenziell wichtigen Bezugspersonen, von Müttern, Vätern, Geschwistern und anderen Familienangehörigen aufrechterhalten. Für Betroffene ist dies zusätzlich schwer belastend, kräftezehrend, zermürbend – weil sie das Schweigen brechen. Dies ist ein unerträglicher und oft mit Verletzungen und Ohnmacht verbundener Trigger-Zustand, der jegliche familiären Kontakte belastet und oft dazu führt, dass die Betroffenen den Kontakt zu der Herkunftsfamilie abbrechen müssen.“ Renate Bühn (Betroffenenrat) Studie – Sexuelle Gewalt in der Familie (aufarbeitungskommission.de)

Auch meine Eltern haben den Kontakt zu beinahe allen Familienangehörigen abgebrochen. Der Schritt, diese toxischen Beziehungen zu durchbrechen hat vieles vereinfacht. Vor allem den Heilungsprozess meiner Eltern. Durch das lange Unwissen über die Geschehnisse hielten sie einen (wenn auch stets etwas gestörten) Kontakt zu ihren Familien – im Nachhinein hinterlässt das einen unschönen Beigeschmack.

Für uns Kinder war vor allem das Bewusstsein wichtig, das mit dem Wissen um den Missbrauch einherkam. Es hat geholfen unsere Eltern und ihre Verhaltensweisen besser zu verstehen und einzuordnen, das hat uns einiges an Wut und Kummer erspart. Obwohl es nicht immer leicht war, wissen wir jetzt, warum − und geben ihnen nicht die Schuld an unseren eigenen Ängsten und Unsicherheiten. Viel eher können wir jetzt sehen, wie viel doch gut gelaufen ist, obwohl die frühen Störungen das gesamte Leben unserer Eltern überschatteten. Im Großen und Ganzen sind wir alle psychisch stabil.

Abschließend ist zu erwähnen, dass die größte Besserung im Zuge meiner Probleme Kommunikation war. Meine Eltern haben mit mir über ihre Probleme gesprochen, und ich konnte die Folgen dessen auf meine eigenen übertragen. Zudem habe ich gelernt, mit meinen Partnerinnen über meine Gefühle und Beschwerden zu sprechen. Das Verständnis und die Geduld meiner Partnerinnen in den Momenten, in denen mich der Stress übermannt und ich dissoziiere, hat mich ein Vertrauen in mein Gegenüber und mich selbst gelehrt, was mich selbstbewusster und immer öfter stressfrei in problematischen Situationen werden lässt. Aus jahrelanger Unfähigkeit bezüglich Sex ist eine gesunde sexuelle Beziehung geworden. Ich bin inzwischen dazu in der Lage Konflikte zu führen. Ich werde immer seltener krank. Das Reden über all die beschriebenen Probleme hat mir auch meine Angst vor einer Therapie genommen. Ich weiß nun, dass es keinen Grund gibt sich für seine Ängste und Störungen zu schämen, und weiß, dass eine intensive Beschäftigung mit ihnen zu einer Minderung von schmerzhaften Erfahrungen führt.

Beratungsstellen für betroffene in Innsbruck :
https://mannsbilder.at/
http://www.frauen-gegen-vergewaltigung.at/
https://www.familienberatung.gv.at/beratungsstellen/information/einrichtung/6500-Landeck-Familienberatung-direkt-bei-Gericht/

Hilfe für Betroffene sexueller Gewalt:

Hilfeangebote für Betroffene von sexualisierter Gewalt: beauftragter-missbrauch.de

Hilfe für Partner*:innen von Betroffenen:

Hilfe für Partner – für PartnerInnen von Missbrauchsopfern (hilfe-fuer-partner.de)

Weiterführende Links:

Studie – Sexuelle Gewalt in der Familie (aufarbeitungskommission.de)

Epigenetik | Max Planck Institut für Psychiatrie (mpg.de))

Folgen von dauerhaftem Stress: Erkrankungen und Symptome | ERGO).

Das weitergegebene Trauma – Wissen – SRF

Sexualisierte Gewalt und Trauma: gewaltinfo.at

Wenn der Vater fehlt. Männlicher Bezugsperson, Kindheit, Kinder (dijg.de)

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