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Jacob Collier: Entfesselte Harmonien

Selten habe ich mich auf ein Konzert so gefreut, wie auf dieses. Es ist ein Dienstag im Juni, einer der ersten richtigen Sommerabende, und immer noch recht warm. Trotz erdrückendem Prüfungsstress stehen meine Mama und ich vor dem riesigen Zelt am Tollwood-Gelände in München.

Wir sind angereist um den „Colorful Mozart of Gen Z“ zu sehen, wie Jacob Collier in einem Artikel der New York Times bezeichnet wird. Während meine Mama noch überlegt, ob sie sich für 10 Euro eine Hand voll gebrannter Erdnüsse kaufen soll, überfliege ich seine Wikipedia-Page.
2013 wurde der junge Collier nach einem viralen YouTube-Video von Jazz-Legende Quincy Jones entdeckt, welcher ihn daraufhin unter Vertrag nahm. Seitdem streamen monatlich 1,6 Millionen Menschen seine Musik via Spotify, fünf Grammys gehen auf sein Konto. Als Kind professioneller Violonist*innen konnte er sich von klein auf im hauseigenen Musikzimmer austoben, wie er im Titelsong seines ersten Albums „In My Room“ erzählt. Berühmt ist er unter anderem für sein absolutes Gehör und seine Publikumsinteraktion bei Liveauftritten.

Ich werde in meinem Lesefluss unterbrochen, denn Mama entscheidet sich gegen die teuren Nüsse und wir stellen uns ans Ende einer erstaunlich kurzen Schlange. Da ich meinen Rucksack mitnehmen möchte, wird dieser kurz durchsucht. Mit skeptischem Blick zieht der Sicherheitsbeamte die riesige, mit Wasser gefüllte Whiskeyflasche aus dem Beutel und schmeißt sie in den Müllkübel. Die Leute hinter mir lachen, auch ich muss grinsen. Schade drum, sie heimste mir immer unbezahlbare Blicke im Fitnessstudio ein.

Ich erinnere mich noch, als mir ein Registerkollege im Landesjugendchor die Musik von Jacob Collier zeigte. „Ein bisserl ein Nerd Shit“, sagte er damals, bevor er „Hajanga“, ein aus musiktheoretischer Sicht sehr interessantes Stück, über meine Kopfhörer abspielte. Ich war hin und weg.
Einige seiner Lieder bedienen tatsächlich ein, sehr eingeschränktes Klientel, die meisten aber auch für Höhrer*innen ohne Bezug zu Jazzmusik interessant. Dazu zählen etwa die unglaublich berührenden Singles „Never Gonna Be Alone“ und „The Sun Is In Your Eyes“, sowie seine Piano Covers von Hits wie etwa „Let It Be“.

m Zelt angekommen ist die Luft noch dicker und das Wasser noch teurer als erwartet. Ich sehne mich nach meiner Wasserflasche, als in einem schrillen, übergroßen Hemd Jacob Collier die Bühne betritt. Die Menge tobt, erst als er die Hand hebt, wird es ruhiger im Zelt. Er deutet auf die Menge und singt einen Ton. Hunderte Kehlen im Publikum übernehmen ihn, bis ein angenehm weicher Klangteppich das Zelt füllt.

Wie auch wir sind die meisten der Zuhörer*innen nicht zuletzt für diesen Teil des Konzertes hier. Immer wieder geht auf Instagram Mitschnitte seiner Auftritte viral, in denen Colliers Publikum als mehrstimmig singendes Menschenmeer zu sehen ist. Das Publikum reagiert auf seine Handzeichen und klettert so die Tonleitern hinauf und hinunter. Den „Audience Choir“ nennt er das, also den Publikumschor.
An sich ist das kein neues Konzept, schon Freddy Mercury und Bobby McFerrin wagten ähnliche Experimente. Jacob Collier aber spielt mit den Leuten, baut ihre Stimmen in seine Lieder ein, macht sie zu einem festen Bestandteil seiner Konzerte. Da das Publikum mehrheitlich aus Musikfanatiker*innen besteht, klingt das Ganze so sauber wie ein ansehlicher Chor.

Dann hält Collier eine Ansprache auf Deutsch und korrigiert sich einmal, als er in einem Satz den falschen Artikel verwendet. Dazu gehöre einiges an Sprachverständnis, gibt eine Frau hinter mir im tiroler Dialekt zu bedenken. Ich schmunzle. Offenbar sind wir nicht die einzigen, die aus dem Oberland angereist sind.

Collier und die Band spielen einen Großteil seines neuen Albums. Als Opener wählen sie „Count the People“, ein genrefreies Stück, welches in Zusammenarbeit mit Jessie Reyez und T-Pain entstand. In dem Lied werden typische Elemente aus 2000er-Pop mit HipHop, Dubstep und einem Banjo verbunden, Jacob Collier springt in einem Affenzahn rappend über die Bühne.
Es folgen einige ruhigere Lieder. Bei „The Sun Is In Your Eyes“ weint sogar der zwei Meter große Hühne, der im Publikum direkt vor mir und meiner Mama steht.
Irgendwann nimmt das Programm wieder Fahrt auf. Während er singt, spielt Collier Schlagzeug, Klavier und Bass. Dabei wechselt er alle fünf Sekunden zwischen den Instrumenten. Ein Bisschen Angeberei ist da schon dabei.

Collier wird stimmlich von den drei Frauen auf der Bühne unterstützt, der Gitarristin, der Pianistin und einer zweiten Sängerin. Letztere heißt Alita Moses und ist mir aus dem Piano-Cover von „Dancing Queen“ bekannt.
Das Vokalendemble um Collier ist während des ganzen Konzertes recht präsent und vordergründig vertreten, weshalb ich den Begriff der „Backgroundsängerinnen“ bewusst vermeiden möchte.
Als Sänger ist für mich die unfassbare Präzision, mit der die Künstler*innen intonieren, das unangefochtene Highlight des Abends. Die vier Stimmen fügen sich perfekt ineinander, kein Hauch von Reibung ist zu hören. Für sich betrachtet verfügen sie über komplett unterschiedliche Stimmfarben und bedienen sich völlig verschiedener Stilmittel, im Ensemble klingen sie dann aber trotzdem wie eine unzertrennbare Einheit.

Liebevoll und gewaltig ziehen die vielen Töne über uns hinweg, jede einzelne Note trägt Emotion und Bedeutung, keine sitzt zufällig oder nur aus Gründen der Konvention an ihrer Stelle, sondern vielmehr, weil sie wie durch ein Naturgesetz genau dort sitzen muss, mehr aus Fügung denn aus Komposition.

Und dann neigt sich der Abend auch schon dem Ende zu. Ich bemerke, dass mein Mund offen steht, und klappe ihn zu. Zum Schluss spielen die Musiker*innen kleines Medley, als Zugabe covert Collier noch zwei Lieder der Beatles und Queen auf dem Piano, wobei er das Publikum miteinbezieht.

Während der Heimfahrt besprechen wir das Erlebte. Ich nehme die bislang faszinierendste musikalische Erfahrung meines Lebens mit nach Hause und gleichzeitig das Wissen um mein eigenes Unvermögen. Am 19. Juli macht Jacob Collier Halt in Wien, noch bevor wir in Tirol ankommen, werde ich mein Ticket kaufen.

Beitragsbild von Tom Bender: https://shorefire.com/roster/jacob-collier

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