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Internationales Filmfestival Innsbruck: Anhell69

Bild: IFFI

Eigentlich wollte der kolumbianische Regisseur Theo Montoya einen Spielfilm drehen; in der Hauptrolle sein enger Freund Camilo Najar. Doch eine Woche nach dem Casting stirbt Camilo an einer Überdosis Heroin. Montoyas Projekt entwickelt sich zu einem dokumentarischen Porträt der queeren Szene Medellíns.

Es ist der Tag des Castings für Theos Spielfilm. Camilo Najar sitzt auf einem schwarzen Stuhl in einem weißen Raum. Die Locken sind definiert, das schwarze Top liegt eng an. Oft lacht er, vielleicht aus Nervosität. Mal schaut er nach links, mal nach rechts. Doch wenn er spricht, blickt er direkt in die Kamera.

„Ich habe keine Angst vor dem Tod“, sagt Camilo. Der Ausdruck auf seinem Gesicht wirkt beinahe trotzig.

Camilo ist einer der vielen Freunde Theos, die in diesen Tagen auf dem schwarzen Stuhl sitzen. Theo fragt sie nach ihren Wünschen und Träumen, ihren Ansichten und Ängsten.

„Ich hätte gerne Brüste.“

„Ich glaube, ich mag Jungs. Ich bin mir aber nicht sicher. Doch, ich mag Jungs.“

Oft hören wir Theos Stimme aus dem Off. Er fragt: „Was würdest du gerne aus deinem Leben machen?“

„Ich möchte reich sein“, heißt es dann.

„Berühmt sein.“

„Ein Kunstwerk“, antwortet jemand.

Auch er stirbt wenige Monate später an einer Überdosis, vermutlich Selbstmord. Theo sagt, in diesen Tagen gehe er öfter zu Beerdigungen als zu Partys. Er beschließt, keinen Spielfilm zu drehen. Stattdessen fügt er viele fragmentarische Aufnahmen zusammen, dokumentiert so das Leben seiner Freunde, die alle Teil der queeren Community Medellíns sind.

Der Tod ist ein zentrales Thema in Anhell69. Während des Films sitzen die Zuschauer*innen immer wieder in kurzen Sequenzen in einem rot beleuchteten Leichenwagen. Lautlos bewegt sich der elegante schwarze Wagen durch die Straßen Medellíns, führt uns nicht nur durch die Stadt – geprägt von Überresten von Straßenschlachten, Graffitis und verfallenen Gebäuden – sondern auch durch die Leben seiner Community.

Theo schafft Nähe zwischen dem Publikum und seinen Freunden auf der Leinwand: Die von ihm eingefangenen Szenen wirken unmittelbar und persönlich – das bewundere ich, denn ich denke an die vielen beim Dreh anwesenden Kameras. Beim Zuschauen habe ich das Gefühl, dass ich Teil des Geschehens bin. Mit Theo und seinen Freunden tanze ich in stillgelegten Fabriken und bunt beleuchteten Wohnungen, mit ihnen weine ich gemeinsam auf sonnigen Friedhöfen, mit ihnen werfe ich Rauchbomben und flüchte in enge Gassen, mit ihnen sitze ich in abgelegenen Ecken, ihnen vertraue ich meine Gedanken und Gefühle an. Immer wieder durchbrechen Casting-Aufnahmen die vielen Sequenzen, die den Alltag seines Umfelds zeigen.

Trotz der vermeintlichen Nähe wird beim Zuschauen oft schmerzlich bewusst: Größer könnte der Unterschied zwischen der Realität der queeren Community Medellíns und meiner eigenen nicht sein. Die wiederkehrenden Einstellungen, die den rot beleuchteten Leichenwagen zeigen, erinnern immer wieder an die Hoffnungslosigkeit, die über Medellín liegt.

Als der Film endet, finde ich mich im Saal Zwei des Leokinos wieder. Es ist Juni, gerade findet das IFFI statt – das Internationale Filmfestival Innsbruck. Aus diesem Anlass steht jetzt Theo Montoya im Kinosaal. Ich habe unfassbaren Respekt davor, den Regisseur vor mir zu haben. Ich denke an Medellín und an die queere Community. Ich frage mich, wie das ist, wenn man als Regisseur auf unzähligen Filmfestivals immer wieder seinen eigenen Film ansieht, Anhell69. Wenn man immer wieder an seine Freunde erinnert wird, von denen die meisten nach und nach gestorben sind. Wenn man immer wieder auf Plakaten den Filmtitel Anhell69 liest – den Instagram-Benutzernamen seines verstorbenen besten Freundes Camilo Najars.

Theo setzt sich auf die Bühnenkante. Er trägt eine Sonnenbrille und spricht langsam. Nach mehreren Fragen aus dem Publikum traue ich mich dann doch, auch eine zu stellen. Ich frage ihn nach der Hoffnungslosigkeit. Es ist das Gefühl, das ich während der Projektion am deutlichsten gespürt habe.

Erst antwortet Theo nicht. Ich kann den Ausdruck in seinem Gesicht nicht einordnen. Ich frage mich, ob meine Frage in Ordnung war, mir ist ein wenig unbehaglich, ich rutsche nervös in meinem Kinosessel herum.

Dann antwortet Theo spöttisch: „Welche Hoffnungslosigkeit?“

Er grinst ein wenig gequält. „Der Film ist Disney pur!“

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