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Der menschliche Entwicklungsfetisch

In meiner Kindheit und meinem Aufwachsen waren die Themen Fortschritt und Entwicklung nicht in irgendeiner Art Vordergrund präsent, allerdings waren sie im Hintergrund allgegenwärtig. Unhinterfragt und selbstverständlich lag alles andere vor diesem Hintergrund, wurde dadurch bezeichnet und gewann so Bedeutung sowie Geltung.

Damals war ich häufig begeistert von Technologien, vor allem von elektronischen Geräten wie Spielekonsolen, iPods oder Smartphones. Ich erachtete diese als vollbrachte Wunder des menschlichen Fortschritts. Heute betrachte ich jene Wunder auf andere Weise. Das Wort „Fortschritt“, besonders in explizitem Bezug auf »den Menschen«, kommt nun stets mit einem fahlen Beigeschmack, mit Ekel zu mir. Wo früher eine Begeisterung für die Magie der menschlichen Schöpfungskraft war, ist heute die Kenntnis, dass diese einstigen Wunder ohne die zahllosen Menschenrechtsverletzungen in der Geschichtsschreibung und ohne die gierigen und skrupellosen Machenschaften des Kapitalismus undenkbar scheinen. Die Slogans: „Mehr! Besser! Weiter!“ machen mich brechen, die Unersättlichkeit hat meinen Magen verwüstet und eigentlich möchte ich gar nichts mehr.

Doch ich würde lügen, würd ich sagen: „Ich bin satt“

Wenn wir die Geschichtsschreibung begutachten, dann ist der einzig sichtbare Fortschritt die wachsende Ausbreitung und Vereinnahmung des Planeten, das Bestimmen und Verwalten von Lebensformen, die (Aus-)Nutzung der Ressourcen und die »Beherrschung« der Naturkräfte. Doch wofür diese Macht? Wohin soll das führen? Was ist das Ziel dieser fortschreitenden Schrittfolge? Ich denke wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die Ideologie des Fortschritts langsam zu Bruch kommen muss. Denn wer soll diese Lüge noch länger glauben, angesichts der Ungerechtigkeit, des Leids und des Chaos, in das wir uns verwickelt haben? Diese Verwicklung hört aber leider nicht einfach auf, sobald man ihr gewahr wird. Sie geht nämlich wie gewohnt weiter, sie ist ein Schneeballsystem oder ein Teufelskreis, denn sobald man ein potenzielles Problem wahrnimmt, ist die Antwort darauf ein anderes „Mehr“, was zu weiteren Verwicklungen führt.

Der Entwicklungsfetisch hat sich ebenso in einen anderen Kontext eingeschlichen: In den des individuellen und persönlichen Lebenswegs. Jeder soll nämlich das Beste aus sich machen. Alle wollen ein eigenes Business haben und/oder Influencer*in sein und wenn es dir nicht gut geht, bist du wahrscheinlich selbst schuld daran. Natürlich mag es sein, dass von nichts auch nichts kommt, doch bin ich nur Einer der Wenigen, die dies so satt haben? Ich sehe keine Entwicklung, ich sehe nur Verwicklung und im schlimmsten Fall Verstrickung. Ich habe aber wohl oder übel mein Befinden ebenso an den besagten Entwicklungsgeist geknüpft. Auch ich habe den Drang etwas zu unternehmen, mich zu ändern, zu be- oder überwältigen, damit es besser wird. Doch wie oft habe ich mich bemüht und angestrengt? Wie oft habe ich mich selbst verwickelt und verknotet in meinen Zielen, Hoffnungen, Gesetzen und Regeln, um schließlich in Verzweiflung zu enden? Manchmal schienen mir meine Knoten und Geflechte wie Kunststücke und so konnte ich mein Tun wahrhaftig schätzen. Es war ein kurzes Flimmern darin enthalten, ein Echo aus der Vergangenheit, in der noch wirklich Platz für Wunder und Begeisterung war. Doch genau so oft hab‘ ich mich mit dem gestrickten Netz selbst gefangen, wo es doch eigentlich für die Besorgung meines Seelenfutters oder die Domestizierung der bösen Geister gedacht war. In diesem Sinne ist »der Mensch« nicht schöpfend, sondern ausschöpfend und vor allem erschöpft.

Die menschlichen Verwicklungskünste scheinen echt großartig zu sein, so atemberaubend, dass wir gar nicht mehr herausfinden aus diesem Knotenhaufen, Fadensalat und Fädenspiel. In diesem Sinne fehlt es an wortwörtlicher Ent-wicklungskunst. Wir meinen nämlich Verwicklung und Verstrickung, wenn wir von Entwicklung sprechen, und wir reden eigentlich über Verfolgung, Fortführung und Überschreitung, sobald wir den Fortschritt lobpreisen. »Uns« täte es in der Tat nicht schlecht, die wortwörtliche Ent-wicklung zu lernen und manche Knotenpunkte zu lockern, zu ent-spannen und eine Rekonfiguration vorzunehmen, bevor noch alles reißt.

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