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Die Wahrnehmung von Kunst im Wandel der Zeiten – ein Erklärungsversuch

Eine Menschenmasse nähert sich einer Gestalt, ausgestreckt auf dem kalten Steinboden. Langsam macht sich spürbar Entsetzen im Raum breit. Dort liegt ein Mann an den Boden gekettet, rechts und links von sich jeweils einen Eimer mit Wasser, in welche Stromkabel mit 110 Volt führen. Was im ersten Moment nach einem Thriller klingt, fungierte als Kunst Performance Prelude 110 or 220 des Künstlers Chris Burden 1971.

Prelude 110 or 120, Chris Burden, 1976, Performance

Ganz anders, wenn man durch die Türen des Musée d’Orsay in Paris tritt. Langsam schlendert man durch die Gänge, lässt seine Blicke über die Bilder von bekannten Künstler*innen wandern. Harmonie, fließende Übergänge und Landschaftsszenen, denen man sich verträumt hingeben kann. Man sieht „Blaue Seerosen“ von Monet, „Sternennacht über Rhône“ von Vincent van Gogh und weitere Bilder, in denen die Zeit förmlich stehengeblieben ist.

Ein scheinbar komplett gegensätzliches Paar von Kunstwerken – erschreckende Performances à la Chris Burden, die einem durch Mark und Bein gehen, und der Impressionismus, der ruhige, gelassene Szenen aus der Natur einfängt. Was die beiden Kunstrichtungen gemeinsam haben? Auf beide wurde zu Beginn mit Ablehnung reagiert, der Begriff „Impressionismus“ zu Beginn sogar als Schimpfwort verwendet.

Sternennacht über Rhône, Vincent van Gogh, 1888, Öl auf Leinwand

Während die einen sich im Impressionismus wiederfinden, können die anderen gar nichts damit anfangen und suchen Zuflucht in abstrahierten Darstellungen. Jede Kunstepoche hat ihre Eigenheiten. Vom Barock, prunkvoll und pompös, zum Expressionismus mit explodierenden Farben bis hin zur zeitgenössischen Kunst, in der kaum mehr Grenzen gesetzt werden, um ein paar Beispiele zu nennen. Doch genau bei diesem Thema werden immer wieder kritische Stimmen laut – wann kann man etwas als Kunst bezeichnen? Wo viele ratlos vor den Bildern stehen, finden sich trotz allem in andere Welten versunkene Betrachter, die nach dem tieferen Sinn graben und darin die Kunst bestätigen. Was „gute“ Kunst ist, bei dem Thema scheiden sich die Geister. Aber gibt es überhaupt so etwas wie „Geschmack“ oder ist dieser nur der Versuch etwas einzufangen, wovon wir nicht zugeben wollen, dass es sich um ein von unserer Zeit gefärbtes Konstrukt handelt?

Kunst im Wandel der Zeiten

Aber wie kam es überhaupt zur zeitgenössischen Kunst?

Jede Kunstgattung ist das Ergebnis einer langen Entwicklung vorangegangener Stile und Epochen. Veränderungen in den Künsten sind immer Antworten und Weiterentwicklungen davon, was bereits war.

Und immer wieder ereignet sich dasselbe Prozedere bei künstlerischen Revolutionen: der momentan anerkannte Malstil bzw. die Technik werden überschritten, Konventionen mit Deckweiß übermalt und die alten Linien mit neuen Farben ausgefüllt. Und immer wieder folgt der Aufschrei der breiten Masse – nach der Manier „was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“

Wenn Menschen in die Dunkelheit einer ungewissen Zukunft treten, verändern sich dadurch zwangsweise auch ihre Auffassungen des Lebens. Wenn wir Kunst als direkte Antwort auf die Gesellschaft und die vorherrschenden Umstände sehen, können wir aus dieser Perspektive einige Schlüsse ziehen. Mit der Veränderung der Menschen ergibt sich das Verlangen nach einer Revolution, hinaus aus dem sich überordnendem System: die eigenen Emotionen, durch die Außenwelt ausgelöst, die einen teilweise zu übermannen drohen, in einer Form der Kunst wiederzufinden oder als Künstler selbst abzulegen.

Die meisten künstlerischen Strömungen ergeben sich dadurch auf natürlichem Wege, bei manchen steckt noch mehr die verborgene Intention der Kunstschaffenden dahinter als bei anderen. So entwickelte sich im ersten Weltkrieg beispielsweise aus der Avantgarde unter anderem der Dadaismus. Der Dadaismus trat als direkte Antwort auf die Missstände des Krieges auf – mit sinnfreien Theateraufführungen, Silbengedichten und verwirrenden Kunstwerken wollten die Künstler*innen auf die Sinnlosigkeit und Verrücktheit der damaligen Lebensumstände aufmerksam machen. Die Bevölkerung, die zuvor mit den Lehren und dem Wissen des Humanismus konfrontiert war, folgte bereitwillig und unterwürfig entgegen jeglicher Vernunft den Befehlen in den Krieg. Der Dadaismus als Ausdruck der Freiheit der Künste, gegen Zensur und die damals herrschende Hegemonie fand charakterisiert durch seine Sinnlosigkeit breiten Zuspruch, auch wenn der überwiegende Teil der Bevölkerung immer noch an den alten Konventionen festhielt.

Aus heutiger Sicht

Kunst isoliert nur für sich selbst zu betrachten hat wenig Sinn. Gerade bei historischen Werken ist es essenziell, die Zeit der Erstellung zu bestimmen, um sie ganz verstehen zu können. Bis heute lässt sich die Verknüpfung zwischen Kunst und Realität klar erkennen. Obwohl unsere Gesellschaft tendenziell über die Zeit hinweg mehr Raum für neue Stile und Richtungen gegeben hat (beziehungsweise der Raum einfach geschaffen wurde), ist mir doch eine gewisse Abneigung gegen gegenwärtige Kunst in meinem Umfeld aufgefallen. Wegen ihrer abstrakten, nicht fassbaren Art wird sie oft missverstanden.

Für die meisten künstlerischen Revolutionen gaben Ereignisse aus der Realität den Startschuss: Kriege und erschütternde Ereignisse, aber auch der Humanismus und Konzepte, die hinaus aus der Misere der Unterschicht führen sollten. Was ist mit der heutigen Zeit? Beinahe alle Formen etwas zu erschaffen, haben wir bereits gesehen – also greift man zu neuen Methoden, neuen Formen der Kunst, die für viele nichts mehr mit Ästhetik zu tun haben. Der Drang nach einer Widerspiegelung und Zurschaustellung von Emotionen wird anders umgesetzt, teilweise auch in der virtuellen Welt mit der Fotografie bereitgestellt. So befindet sich die Kunstszene in einem ständigen Wandel, durch welchen die vorherrschende Kunstrichtung neu entdeckt, meistens zuerst zu Ablehnung führt, bis sie sich langsam etabliert und weiterentwickelt.

Wenn man nun genauer darüber nachdenkt, kann man gewisse Parallelen zwischen Kunst und Gesellschaft in unserer heutigen Zeit erkennen. Die jüngste Medienrevolution schuf eine verstärkte Verschriftlichung und Vereinfachung der Kommunikation. Durch Kürzel und Emojis wird prägnant dargestellt, wofür man sonst mehrere Sätze verwenden müsste. In einer Welt, in der die Simplifizierung von allem gesucht wird, wäre es auch verständlich, wenn sich weniger Menschen nach abstrahierten Darstellungen ihrer Emotionen sehnen würden. Man sucht nach Einfachheit und Klarheit – die Frage ist, ob dies aus der Perspektive der Kunst als Rückschritt in den Künsten zu interpretieren ist oder ob es einfach nur als natürliche Stufe gesehen werden kann, wie es in der Vergangenheit auch schon war.

So lässt sich abwarten, ob im nächsten Jahrhundert Menschen nostalgisch auf unsere heutige Kunst zurückblicken und sich nach den alten Zeiten sehnen, wie es auch in unserer Zeit wahrzunehmen ist. Als Fazit lässt sich jedoch sagen, dass Kunst als das Ergebnis unserer Realität in ihrem eigenen Prozess den Kunstgeschmack beeinflusst, wenn auch bei manchen mehr als bei anderen.

Quellen: Bild 1: Leonardo da Vinci creator QS:P170,Q762 C2RMF: Galerie de tableaux en très haute définition: image page Bild 2: (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Mona_Lisa,_by_Leonardo_da_Vinci,_from_C2RMF_retouched.jpg), „Mona Lisa, by Leonardo da Vinci, from C2RMF retouched“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-oldhttps://prometheus.uni-koeln.de/de/image/bern-809527727281873c16b1835faf3dddaed211fac4 (25.12.2022) Bild 3: Vincent van Gogh artist QS:P170,Q5582 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Starry_Night_Over_the_Rhone.jpg), „Starry Night Over the Rhone“, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-old (25.12.2022)

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