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Vermissung

Wieso schmecken Kekse im Winter besser? Warum fühlt sich Wärme je nach Jahreszeit anders an? Wieso ist einem im Herbst immer zu kalt? Ein Gedankenausflug über die Bedeutung des Sommers, des Winters und alles, was dazwischen liegt.

Ich mag den Sommer und die Sonne. Ich mag das Gefühl von Wärme auf meiner Haut, und ich mag das Geräusch vom Meer und den Sand, der zwischen meinen Zehen reibt. Unter einem Schirm zu liegen, mit einem Buch in der Hand und nur zu lesen. Zu lesen, bis einem die Augen zufallen. Ich mag es, mit geschlossenen Augen dazuliegen, nur zu sein, und den Geräuschen zu lauschen. Das sanfte Rauschen des Meeres, die dumpfen Schritte anderer Menschen, das Kreischen der Kinder und das Krächzen der Möwen. Ich mag es sogar, wie meine Haut ganz trocken wird, überzogen von weißem, getrocknetem Meersalz und auch den Sand, der immer seinen Weg in die Kleidung findet, egal wie vorsichtig man versucht, sich anzuziehen. Ich mag die Müdigkeit nach einem Tag am Strand, weil nichts tun müde macht, weil man sonst nie nichts zu tun hat. Ich mag die Leichtigkeit des Sommers, wie ein Song von Earth, Wind and Fire, zu dem man tanzt, ohne zu denken und ohne sich Gedanken über andere zu machen. Ich mag den Routinebruch, das zum Frühstück Eis essen und Sangria gegen den Durst trinken. Ich kann machen, was ich will. Aufstehen, schlafen und selber Nudeln machen, Bolognese kochen, die drei Stunden braucht, aber man hat eh nichts Anderes vor. Ich mag es um neun am Abend durch die Straßen zu spazieren. Es ist noch hell, und die Menschen sitzen auf Mauern und Treppen im Schneidersitz, während sie mit einem Bier in der Hand, die neuesten Themen diskutieren. Ich mag, wie die Gedanken im Sommer ganz still sind, weil sie von Erinnerungen überdeckt werden, die so grell und farbenfroh sind, dass nichts anderes mehr Platz hat. Ich mag den Sommer. 

Ich vermisse den Winter und die Kälte. Ich vermisse diese dicken Schneeflocken, die langsam und träge am Fenster vorbeifallen und sanft auf dem Boden landen. Ich vermisse den Geschmack von Zimt in Keksen, die im Winter immer ganz anders schmecken. Ich vermisse das Toben im Schnee, mit kalten Wangen, das Heimkommen und das langsame Aufwärmen auf dem Sofa unter einer Wolldecke. Ich vermisse sogar die eisigen Finger, die man zuerst nur ganz langsam unter lauwarmes Wasser hält, damit es nicht zu sehr weh tut, wenn sie warm werden. Ich vermisse Weihnachtslieder (ja, sogar „Last Christmas“), besonders das erste, das man meistens schon viel zu früh im Radio hört. Winter ist gemütlich, auf eine ganz andere Weise wie der Sommer. Der Sommer sitzt im Kopf weit oben, redet ständig auf mich ein. Der Winter dagegen liegt tief in meiner Brust. Schwerer, aber beschützend und ruhig. Dunkler, aber warm. Eine sanfte, innere Wärme, nicht wie die Hitze im Sommer. Wie heißen Tee, den man trinkt und der einen von innen heraus wärmt. Ich vermisse die Trägheit des Winters, die kurzen Tage an denen man schon ab vier Uhr nichts mehr macht, weil es schon dunkel ist. Winter ist wie „Cherry Wine“ von Hozier, traurig und schön zugleich und ein bisschen wehmütig. Ich vermisse es, Suppen zu kochen, Geschenke zu kaufen, am Christkindlmarkt Zuckerwatte zu essen und dabei immer klebrige Finger zu haben. Ich vermisse das Geräusch, wenn meine Schuhe über die matschige, kieselüberzogene Straße marschieren, das massenproduktionsartige Backen von Keksen, damit man für Weihnachten auch ja genug hat und das Knistern des Feuers im Kamin. Im Winter ist mein Kopf voller Gedanken, da hat nichts mehr sonst Platz. Nur ich mit mir selbst allein. Ich vermisse den Winter. 

Ich liebe den Herbst. Ich liebe das getrocknete Laub, das auf den Straßen liegt, das Knistern, wenn man auf die Blätter tritt. Ich liebe es, Kastanien zu essen, sogar sie zu backen, obwohl die Zubereitung immer mühsam ist und einem die Hände vom Einschneiden schon weh tun. Ich liebe die Brauntöne im Herbst, alles ist braun, umbra, dunkelbraun, rostbraun, schokoladenbraun. Im Herbst denke ich in Brauntönen. Ich liebe das Gefühl der Gelassenheit, gepaart mit Spannung, was einen erwarten wird. Ein leicht nervöses Flattern im Bauch, das einen gleichzeitig erdet. Ich liebe es, endlich wieder die Jacken und Pullover aus dem hintersten Eck meines Schrankes heraus zu kramen, Freund*innen, die man über den Sommer nicht gesehen hat, wiederzutreffen und an alles und nichts gleichzeitig zu denken. Herbst ist wie „Happier than Ever“ von Billie Eilish, ruhig und aufregend, nachdenklich und laut, sanft und voller Energie. Ich liebe den Herbst, weil er mich denken lässt ohne überzudenken. Weil ich alles sein kann, alles auf einmal. Ich liebe den Herbst, obwohl man oft friert, weil man noch immer die hohen Temperaturen vom Sommer gewöhnt ist, und obwohl der Stress nach dem Sommer wieder beginnt. Ich liebe den Herbst, weil er Winter und Sommer ist, weil er ruhig und wild ist und ich mich dennoch nicht für eins entscheiden muss. Ich liebe den Herbst.

Photo: Dara Shetty

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