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Was passiert, wenn ich meinen Körper aufgebe?

Diese Frage erscheint im ersten Moment sinnbefreit, anmaßend, unlogisch. Wie soll ich schon meinen Körper aufgeben? Ich habe ihn ja immer bei mir. Ich kann ihn nicht wie einen Brief bei der Postfiliale am Marktplatz abgeben. Und außerdem hat mir einmal jemand gesagt: „Aufgeben tut man einen Brief, nicht sich selbst.“ Verwerfen wir den Gedanken wieder…

Ein Kommentar

…. und fangen ihn hier wieder ein. Wie kann ich meinen Körper aufgeben? Aufgeben klingt zuallererst negativ, bevor es etwas anders ist. Es klingt nach Verwahrlosung, nach Fertigpizza und Bier zum Frühstück, nach wöchentlicher Katzenwäsche und Zähneputzen ohne Zahnpasta. Aufgeben klingt nach Leere, Schmerz, Gestank und Tränen. Wenn mir meine beste Freundin erzählt, sie habe aufgegeben, baue ich sie auf. Dann sage ich: „Mach weiter!“ Wenn mir jemand erzählt, der Großvater habe aufgegeben, denke ich daran, was ich bei seiner Beerdigung anziehe. Wenn mir meine Cousine sagt, sie habe ihre Ehe aufgegeben, mache ich Mitleidsbekundungen, auch wenn ich mich irgendwie für sie freue, weil ich ihre Frau immer komisch fand.

Aber manchmal stehe ich unter der Dusche und denke mir, ich will aufgeben. Und für den Bruchteil einer Sekunde, so kurz, dass dieser Moment kaum fassbar ist, so kurz, dass ich ihn fast wieder vergesse, fühlt sich der Gedanke frei an. Warum fühlt er sich wie Freiheit an? Ich glaube, weil es sich für einen Augenblick so anfühlt, als könnte ich mich von Erwartungen lösen. Als könnte ich mich von Ängsten befreien. Als könnte ich etwas anders von mir sehen als meinen Körper. Kurz fühlt es sich an, als wäre ich transzendent, nicht körperlich, sondern würde mit der Umwelt verschwimmen. Mein Oberkörper fühlt sich leicht an, es fühlt sich an, wie das Stichwort besagt: Ein Stein fällt mir vom Herzen. Aber wie Augenblicke es so an sich haben, sind sie von kurzer Dauer. Und ich frage mich, was würde ich aufgeben, wenn ich meinen Körper aufgebe?

Ich sehe mich, tätigkeitslos um kurz vor neun am Morgen auf meinem Balkon sitzen, mit noch tiefgekühlter Pizza in Plastik verpackt, weil ich nicht genug Geduld habe, um sie im Ofen warm zu machen und einer Dose Bier in der Hand, weil ich keine sauberen Gläser mehr habe. Nein, ehrlich gesagt sehe ich mich nicht so. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich sehe mich eigentlich genau da, wo ich jetzt bin, aber doch anders. Gerade erkenne ich, dass ich Angst vor diesem Anders sein habe. Wovor ich Angst habe? Das wüsste ich selbst gern. Ich habe Angst, nicht und niemals geliebt zu werden. Ich habe Angst, Kontrolle zu verlieren. Ich habe Angst, allein zu sein. Ich habe Angst, nicht erfolgreich zu sein. Ich habe Angst zu enttäuschen. Und diese Ängste hängen alle damit zusammen, dass ich meinen Körper nicht aufgeben kann.

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, existiert nur in meinem Kopf. Eigentlich ist es nicht logisch, eigentlich ist es nicht real. Aber in meinem Kopf ist es da, und die Ängste sind real. Daher möchte ich versuchen, das aufzuzeigen, was mein Kopf mir sagt. Dafür muss ich wie folgt beginnen: Ich bin nicht normschön. Das heißt: ich bin relativ groß, was mich immer gestört hat. Ich wollte immer klein sein, will es heute noch. Ich bin nicht dünn, was ich immer sein wollte. Ich habe große Hände, die in meinen Augen unförmig wirken. Mein Kopf passt nicht zu meinem Körper. Ich habe eine große Nase und kleine Augen. Meine Haare sind kurz und stehen von meinem Kopf ab. Ich sehe nicht gut. Meine Haut ist nicht rein. Ich habe große Füße. Und ich habe Angst, dass andere Menschen das auch bemerken, wenn ich meinen Körper aufgebe. Obwohl das natürlich unlogisch ist, weil das, weil ich, weil mein Körper ja immer da ist. Aber schon diese tägliche, ständige Anstrengung, das Beste zu tun, dass es andere nicht sehen, gibt mir Kontrolle und zumindest die leiseste Hoffnung, geliebt zu werden. In meinem Kopf hängt die Bewertung meines Körpers nämlich mit meinem ganzheitlichen Wert zusammen. Die Bewertung meines Körpers hat mit der Fähigkeit, ja sogar mit der Möglichkeit mich zu lieben zusammen.

Und das ist falsch. Niemals würde ich einer Freundin/einem Freund sagen, ihr/sein Körper habe irgendetwas damit zu tun, wie gern ich ihn/sie mag. Und ich vertrete diese Meinung ja eigentlich auch gar nicht. Ein Körper determiniert nicht den Menschen. Dass Körper eine so große Rolle spielen, ist ein Konstrukt, eine Falle wenn man so mag, eines ausbeuterischen Systems das darauf ausgelegt ist, aus unzufriedenen Körpern Profit zu schlagen. Ich bin nicht schuld an meiner eigenen Abwertung meines Körpers. Eine Industrie ist schuld, die glaubt, 12-jährigen Mädchen einreden zu müssen, dass sie erst schön sind, wenn sie ihre eigenen Oberarme mit einer Hand umfassen können. Medien sind schuld, die vermitteln, dass nur reiche, unterwürfige, weiße, dünne, kleine, schwache Prinzessinnen einen Prinzen fürs Leben bekommen. Germany‘s next Topmodel ist schuld, das „heute leider kein Foto für dich hat“, weil du beim letztem Umstyling leider ein bisschen zu dramatisch warst. Schuld ist eine Schulbildung, die dünn sein mit gesund sein gleichsetzt, die Körperbehaarung aus Schulbüchern verbannt, die mir nicht beigebracht hat, wie ich die Bedürfnisse meines Körpers erkennen kann.

Und trotzdem, wenn ich darüber nachdenke, was passieren würde, wenn ich meinen Körper aufgebe, bekomme ich Angst. Auch wenn ich rein theoretisch wüsste, dass alle meine Annahmen nur konstruiert sind, kann ich nicht loslassen. Ich stehe weinend unter Dusche und muss einsehen, dass ich noch einen weiten Weg habe, weg von der Körperlichkeit. Tränen laufen mir über mein Gesicht, weil ich weiß, wie viel ich verpasse, weil ich nicht aufgeben kann. Wenn ich das nämlich könnte, wäre jeder Tag so viel anders, vielleicht so viel besser. Ich könnte aufstehen, ohne dass mein erster Gedanke negativ ist, weil ich ihn auf meinen Körper beziehe. Ich könnte mich anziehen, ohne mich voll Wut vom Spiegel abwenden zu müssen. Ich könnte mich in der Stadt bewegen, ohne ständig zu vergleichen. Ich könnte lieben, ohne Angst, er könnte sie mehr lieben. Ich könnte ohne Schuld essen, einkaufen, kochen. Ohne Bewertung mein Körperfett betrachten. Kleidung ohne Angst einkaufen. Schwimmen gehen. Nackt sein. Bei und nicht nur mit jemandem schlafen, auch nüchtern, ohne mir Mut antrinken zu müssen. Ich könnte den Gedanken annehmen, dass mich Menschen mögen.

Das deprimierende Fazit für mich an dieser Stelle: Ich kann mich gerade nicht aufgeben. Ich weiß nicht warum. Ich verstehe nicht, warum ich festhalte an all diesen Mustern, an all diesem Schmerz. Alles was ich weiß ist, dass es besser wird.

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