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Protestwelle im Iran: Ein Kampf um Informationsfreiheit

© Artin Bakhan (unsplash)

Kopftücher, die in Flammen aufgehen, wehendes Frauenhaar und Tausende Demonstrierende, die auf die Straße gehen. In den Händen Plakate mit der Aufschrift: women, life, freedom. Der Iran erlebt seit mehr als einer Woche eine historische Welle von Protesten, die hauptsächlich von Frauen getragen wird. Auslöser dafür war der vermutlich gewaltsame Tod einer unschuldigen Frau durch die Sittenpolizei. Die Menschen protestieren gegen die repressive Regierung. Immer weniger Neuigkeiten über den Fortlauf der Proteste dringen ins Ausland, da die iranische Regierung seit 21. September systematisch den Zugang zum Internet für die Bevölkerung einschränkt. Am heutigen 28. September, dem Internationalen Tag des allgemeinen Informationszugangs, soll unser Blick in den Iran wandern, einen Staat, in dem der Großteil der Bevölkerung derzeit keinen Zugang zu freien und unabhängigen Informationen hat.

Proteste im Iran

Seit dem 19. September protestieren zahlreiche Menschen im Iran. Angefangen haben die weitgehend friedlichen Demonstrationen in der Hauptstadt des Irans, in Teheran. Tausende Menschen beteiligten sich daran. Nur wenige Tage später versammelten sich bereits in über 30 Städten Menschen für Proteste. Die iranischen Sicherheitskräfte gingen von Anfang an hart und besonders gewaltsam gegen Demonstrierende vor.
Laut der NGO Iran Human Rights sind bisher mindestens 57 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 1.200 Menschen wurden verhaftet.

Der Hintergrund

Auslöser für die Proteste war der Tod der 22-jährigen Mahsa Amini. Die junge Kurdin wurde von der iranischen Sittenpolizei verhaftet, da sie ihr Kopftuch nicht ordnungsgemäß trug.
Während sie von der Polizei festgehalten wurde, fiel sie ins Koma und starb am Freitag, den 16. September. Die Umstände ihres plötzlichen Todes sind bisher ungeklärt.
Kritiker*innen werfen der Polizei vor, Amini brutal geschlagen zu haben und für ihren Tod verantwortlich zu sein. Die Polizei streitet diesen Vorwurf vehement ab.
Die EU fordert, dass ihr Tod ordnungsgemäß untersucht werde und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Seit der Islamischen Revolution von 1979 und der darauffolgenden Islamisierung aller Lebensbereiche, wie Justiz, Schulen, Wirtschaft und Medien wurde auch eine islamische Kleiderordnung eingeführt, die bis heute streng kontrolliert wird.

Menschenrechtslage im Iran

Die Zwangsverschleierung ist allerdings nur eine der vielen Formen von systematischer Gewalt durch die Islamische Republik. Die Menschenrechtssituation im Iran ist prekär. Frauen stehen unter männlicher Vormundschaft, sie werden häufig in die Ehe gezwungen. Jährlich finden hunderte von Hinrichtungen, auch von Minderjährigen, statt. Ebenso werden grausame körperliche Strafen durchgeführt. Es gibt dokumentierte Fälle, in denen Regierungskritiker*innen spurlos verschwunden sind. Aktivist*innen werden oftmals willkürlich festgenommen und ohne faires Gerichtsverfahren verurteilt. Besonders reproduktive und sexuelle Rechte sind stark eingeschränkt. Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten sowie Personen der LGBTQ-Community werden sowohl in der Gesellschaft als auch vor Gesetz diskriminiert und gewaltsam bestraft.

Kampf dem Regime

Die vorwiegend jungen Demonstrierenden forderten ursprünglich eine restlose Aufklärung der Todesursache von Mahsa Amini. Ihr Tod war aber zeitgleich Anlass für vehemente Kritik am strengen Regime der Islamischen Republik. Den Menschen geht es um eine Aufhebung der gesetzlichen Kopftuchpflicht und um eine Auflösung der Sittenpolizei. Sie fordern außerdem, dass auch Polizeibeamte für Vergehen strafrechtlich verfolgt werden sollen, was zurzeit nicht der Fall ist.
Ein Großteil der Bevölkerung wünscht sich eine Trennung von Staat und Religion sowie die Herstellung einer liberalen Demokratie und den Schutz der Menschenrechte. Daher fordern sie einen Sturz des religiösen Regimes. Zahlreiche Demonstrierende lehnen ein Eingreifen des Westens, etwa in Form eines Kriegs im eigenen Staat, ab. Sie sehen die große Chance nun darin, den Druck auf die Regierung zu verstärken und einen Umsturz aus eigener Kraft von innen herbeizuführen.

Die Regierung legt das Internet lahm  

Seit einigen Tagen wurde es zunehmend still in der Berichterstattung rund um die erneut aufgekommene Protestbewegung im Iran. Das liegt weniger daran, dass die Proteste sich gelegt hätten, sondern mehr an der Tatsache, dass die iranische Regierung unter Staatschef Ebrahim Raisi den Zugang zum Internet seit einer Woche massiv eingeschränkt hat.
Laut der Organisation NetBlocks, die den Datenfluss im weltweiten Netz laufend analysiert, gibt es seit Mittwoch, 21. September im Iran landesweit Verbindungsverlust. Dabei wurden sowohl der Messengerdienst WhatsApp als auch die Plattform Instagram blockiert. Instagram ist eines der letzten sozialen Netzwerke, die im Iran bisher noch erlaubt waren.

Digitale Zensur: „Strengste Beschränkungen seit Massaker von 2019“

Dabei ist die Ausschaltung des Internets kein neuartiges Mittel, um Proteste zu unterdrücken und Zensur zu betreiben. “Der Iran unterliegt nun den strengsten Internetbeschränkungen seit dem Massaker im November 2019”, so NetBlocks. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen wurden 2019 bei Protesten rund 1.500 Menschen getötet. Auch im Jahr 2009 versuchte die Regierung Unruhen zu bekämpfen, indem sie den Zugang zum Internet erschwerte.
Diese Maßnahme hat zur Folge, dass Demonstrant*innen kaum noch Videos und Informationen in den sozialen Netzwerken teilen können. Die lokale Presse berichtet entweder gar nicht mehr über die Proteste oder gibt nur mehr die Meinung der Regierung wieder. Einheimische Journalist*innen, die kritische Berichterstattung leisten, werden entweder verhaftet oder mit rechtlichen Schritten bedroht. Der iranische Geheimdienst sendete eine SMS an alle Bürgerinnen und Bürger, in der eine Warnung enthalten ist: Wer sich an den Protesten beteiligt, wird nach islamischem Gesetz bestraft.

Das Internet als wichtige Waffe

Besonders problematisch ist die Tatsache, dass die iranische Regierung mittlerweile über ein eigenes, nationales Internet verfügt, das sie nach Belieben kontrollieren kann. Eine mangelnde Möglichkeit der Vernetzung erschwert die Organisation von Protesten. Demonstrierende können auf diese Weise nur sehr schwer herausfinden, wo neue Proteste stattfinden.
Die Tatsache, dass andere Länder nur noch am Rande mitbekommen, was im Iran geschieht, erlaubt es der Regierung, Proteste regelrecht niederzumetzeln. Eine objektive Berichterstattung wird somit schlichtweg unmöglich. Die Journalistin und ehemalige Iran-Korrespondentin der ARD, Natalie Amiri, sagt in einem Interview mit Radio 1 Folgendes:
„Das Internet und soziale Medien sind die einzige Waffe der Menschen, die auf der Straße sind. Wird es abgeschaltet, ist es ein erstes Anzeichen dafür, dass Sicherheitskräfte rigoros vorgehen werden.” 

EU verurteilt Gewaltanwendung des Irans

Die Europäische Union übt indessen scharfe Kritik am Vorgehen der iranischen Regierung. „Für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten ist der weit verbreitete und unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt gegen gewaltlose Demonstranten nicht zu rechtfertigen und nicht hinnehmbar“, so der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Sonntag. Die EU erwarte sich, dass der Iran das gewaltsame Niederschlagen der Proteste umgehend einstelle, der Zugang zum Internet müsse außerdem wiederhergestellt werden.
Die USA kündigt zudem an, Iraner*innen den Zugang zu Internetdiensten und Software durch einen vereinfachten Export zu erleichtern. Damit möchte die USA den „freien Informationsfluss und den Zugang zu faktenbasierten Informationen für die Menschen im Iran“ ausbauen. Das teilte der US-Außenminister Antony Blinken mit.

Die Antwort der Islamischen Republik

Der Iran wies die Kritik vonseiten der EU am Vorgehen gegen die Proteste zurück. “Das ist Einmischung in die internen Angelegenheiten des Irans und Unterstützung von Krawallmachern”, sagte Außenamtssprecher Nasser Kanaani. Ihm zufolge unterstützen die EU und der Westen Unruhestifter, die die Sicherheit des Irans gefährden.
Seit einigen Tagen finden laut iranischen Medienberichten Gegendemonstrationen für die Kopftuchpflicht und gegen Regimekritiker statt. Die Bevölkerung wird vonseiten der Regierung dazu angehalten, an diesen Demonstrationen teilzunehmen.
Präsident Raisi hingegen verurteilt die Protestwelle gegen sein Regime vehement, er nennt sie einen „Akt des Chaos“, die Demonstrierenden bezeichnet er als „Feinde“.
Gleichzeitig lobt er die Gegendemonstrationen seiner Anhänger*innen und spricht von schönen Szenen der Macht und des Sieges der Islamischen Republik.
Kritiker werfen der Regierung vor, diese Gegendemonstrationen zum Großteil bewusst zu inszenieren, um die Solidarität der Bevölkerung mit dem System zu betonen.

„Uns steht noch Schlimmeres bevor“

Saeid Dehghan, ein Menschenrechtsanwalt aus Teheran, gibt gegenüber der Deutschen Welle seine Sicht der Zukunft wider:
“Ich fürchte, dass uns noch Schlimmeres bevorsteht als das, was wir 2019 erlebt haben. Die Lage ist sehr angespannt. Viele Menschen sind wütend und verzweifelt. Sie haben das Gefühl, kaum noch etwas verlieren zu können. Sie leiden unter der Wirtschaftskrise und unter alltäglichen Repressalien. Jetzt haben der Tod einer jungen Frau wegen angeblichen Verstoßes gegen den Kopftuchzwang die Wut und den Ärger über das politische System hervorbrechen lassen. Es ist eine schwere innere Krise, und die Regierung hat keine andere Antwort darauf außer weiterer Unterdrückung.“

Fehlende Presse- und Informationsfreiheit

Laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen gehört der Iran seit der Islamischen Revolution von 1979 zu den repressivsten Ländern weltweit für Journalist*innen. Sie wurden seit der Revolution zu Hunderten strafverfolgt, inhaftiert oder hingerichtet. Bürgerjournalist*innen verbreiten vermehrt über soziale Medien unabhängige Informationen. Das Internet wird einer umfassenden Zensur und Überwachung unterzogen. Während regierungskritischer Demonstrationen wird es auch immer wieder gänzlich abgeschaltet, wie es zurzeit der Fall ist. Iranische Medien sind ebenso systematischer staatlicher Kontrolle unterworfen. In der Rangliste der Pressefreiheit besetzt der Iran Platz Nummer 178 von insgesamt 180 Staaten. 
Die Rangliste für Pressefreiheit vergleicht die weltweite Situation für Journalist*innen und Medien.

Die stark digitalisierte Welt, in der wir heute leben, erlaubt es uns, überall und jederzeit frei auf Informationen jeglicher Art zugreifen zu können. Im Jahr 2019 haben die Vereinten Nationen beschlossen, einen Gedenktag zur Förderung eben dieser Informationsfreiheit ins Leben zu rufen. Heute, am 28. September findet dieser Tag des allgemeinen Informationszugangs statt. Er erinnert uns allerdings auch daran, dass es noch zu viele Menschen weltweit gibt, denen dieses Recht entzogen wurde und die keine Möglichkeit mehr haben, auf unabhängige Informationsquellen zuzugreifen. Alles, was ihnen bleibt, ist die Hoffnung, dass ihre lautstarken Forderungen nach Freiheit und Selbstbestimmung um die Welt gehen, Empörung auslösen und auf diese Weise den Weg ebnen für einen lang ersehnten Wandel des politischen Systems.

Titelbild: © Artin Bakhan (unsplash)

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