Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit. Dieser Tag jährt sich heute zum 77. Mal. Wir nehmen uns daher Zeit, dem zu gedenken, was sich nie wiederholen darf. Exemplarisch für die 1,1 Millionen Toten von Auschwitz erinnern wir uns an eine junge Frau aus Innsbruck, deren Leben mit nur 17 Jahren in der Gaskammer endete. Das ist die Geschichte von Ilse Brüll.
Ilse Brüll wurde am 28. April 1925 in Innsbruck geboren. Sie war die Tochter von Rudolf und Julie Brüll, geborene Steinhardter. Die Familie war angesehen und wohlhabend, ihr Vater leitete die Möbelfabrik Michael Brüll in der Anichstraße 7, eines der wirtschaftsstärksten Unternehmen der Stadt, in zweiter Generation. In diesem Gebäude, unten war das Möbelgeschäft und die dazugehörige Tischlerei, oben die Wohnungen der Familie, wuchs Ilse auch auf. Die Schule besuchte Ilse in Wilten, wo heute eine Seitengasse der Michael-Gaismair-Straße und die dort gelegene Mittelschule Ilse-Brüll-Gasse an sie erinnern.
Ilses Cousine Ingeborg Brüll erzählte später über Ilses Kindheit:
„Sie war sehr intelligent, die Ilse, hat sehr leicht alles aufgenommen. Und mit ihren Eltern war sie soweit recht gut. Nur ist sie eigentlich sehr verwöhnt worden. Sie hatte ein eigenes Kinderfräulein, und die Mutter hat eine Köchin gehabt, und im Winter hat sie sogar jemand gehabt, die Kekse gebacken hat, und so weiter. Da habe ich auch noch ein Foto am Küchenbalkon. Also, ich habe mir immer gedacht, die Ilse wird einmal was Besonders werden. Ausgerechnet sie hat es erwischt.”
Diese unbeschwerte Zeit in Ilse Brülls Leben war spätestens am Morgen des 10. November 1938 zu Ende. Das Möbelhaus Michael Brüll war – mangels einer Synagoge – ein Zentrum des jüdischen Lebens in Innsbruck gewesen und wurde somit über Nacht zum Ziel des “spontan ausgedrückten Volkszorns” gegen die jüdische Bevölkerung, der, wie wir heute wissen, ein von NS-Organisationen geplantes und durchgeführtes Pogrom war. Fünf Mitglieder der NS-Sturmabteilung (SA) drangen in das Haus in der Anichstraße 7 ein, verprügelten Ilse Brülls Eltern Rudolf und Julia sowie ihren Onkel Josef Brüll. Ilse hielt sich zu dieser Zeit bei einer Tante in München auf. In der Folge wurde die Familie zur Umsiedlung nach Wien gezwungen. Ilses Aufenthalt dort war nur von kurzer Dauer: Aus Angst um ihre Tochter organisierten die Eltern bald darauf ihre Ausreise in die Niederlande.
Zunächst gelang das Unternehmen: An ihrem 13. Geburtstag, dem 28. April 1939, erreichte Ilse Rotterdam, gemeinsam mit ihrer Cousine Ingeborg Brüll, die den Krieg überlebte. Die beiden Mädchen fanden schließlich Unterschlupf in Eersel, nahe Eindhoven, in einem Kinderheim einer katholischen Organisation. Nach den Berichten ihrer Cousine war Ilse Brüll vor allem in diesen letzten Jahren ihres Lebens stolz auf ihre jüdische Herkunft und entschied sich auch dagegen, sich, wie viele andere jüdische Mädchen im Kinderheim, christlich taufen zu lassen. Drei Jahre lang gelang es ihr, sich den Nazis zu entziehen, bis sie Ende August 1942 im Alter von 17 Jahren in das KZ Hertogenbosch verschleppt wurde.
Ingeborg Brüll berichtete, dass die Leiterin des Heims Ilse auslieferte, um die Schließung des Heims und die Deportation aller Kinder durch die Nazis zu verhindern:
„Die Ilse ist dann weggekommen. Die Würdige Mutter (Leiterin des Klosters, Anm.) hat sie noch weggebracht, in einem Wagen. Ich habe gesagt: ‚Die Ilse kommt doch wieder zurück?’ Und dann hat sie gesagt, die Mutter: ‚Ilse ist ein Engel in dem Himmel.’ Da hat sie schon gewusst, dass mit ihr etwas passiert. Sie hat gesagt, wenn die gesagt haben, die Ilse muss weg, und sie hätten das nicht gemacht, dann hätten sie die ganze Kolonie geschlossen, weil da zweihundert Kinder waren. Das haben sie nicht getraut. Und da war noch ein Priester, der hat ihr den Segen gegeben – ob er das darf – darauf hat sie gesagt, warum, wenn er es gut meint, warum nicht. Hoch erhobenen Hauptes ist sie damals mitgegangen. Ich kann mich noch gut erinnern. Wir sind im Bett gelegen, und die Nacht war furchtbar. Ich habe gewusst, am nächsten Tag geht die Ilse weg. Und ich hab es einfach nicht glauben können.“
Nach einem kurzen Aufenthalt in Hertogenbosch wurde Ilse Brüll nach Auschwitz weitergebracht und starb dort, vermutlich am dritten September 1942, in der Gaskammer.
Ilse Brülls Eltern überlebten den Krieg und das KZ Theresienstadt, nach Ingeborg Brülls Schilderung dank der handwerklichen Fähigkeiten des Vaters:
„Und dann ist der Onkel Rudolf, die sind gewesen, ja in Theresienstadt. Und dann sind sie zurückgekommen, und zwar hat das mein Onkel verdankt seinem Handwerk. Er hat für die Bonzen er war ja gelernter Tischler. Da hat er verschiedene Sachen gemacht. Wenn er sich geweigert hätte .. es hat ja immer geheißen, weil meine Tante immer gekränkelt hat, man wollte sie wegschicken in ein anderes Lager, wo es dann .. Sie wissen ja, wo sie vergast worden sind. Da hat der Onkel Rudolf eben für sie, die Bonzen, diese Tischlerarbeiten gemacht. Und durch dieses Handwerk hat er sich gerettet. Wie sie die Tante weghaben wollten, die Nazis, weil man das ja nicht braucht, wenn wer nichts mehr tut und nichts mehr kann, und dann hat er gesagt: ‚Wenn meine Frau weg kommt, dann geh ich mit.’ Das haben sie dann also doch nicht gemacht.”
Nach Kriegsende kehrten Rudolf und Julie Brüll wieder nach Innsbruck zurück, sie sahen die Stadt trotz allem immer noch als ihre Heimat an.
Am 6. November 1945 schrieb Ilses Vater Rudolf Brüll ein Telegramm an seine zwischenzeitlich nach China ausgewanderten Brüder Felix und Franz. Die Maximallänge von 25 Wörtern, die damals für Telegramme galt, verbannt die Gefühlswelt der zerrissenen Familie zwischen die Zeilen.
„Wir gesund aus Konzentrationslager zurückgekehrt. Ilserl vor drei Jahren verschleppt, unbekannt wohin, kein Lebenszeichen. Hoffen euch gesund. Erwarten Lisi. Jaques gestorben. Innigste Küsse. Rudolf”
Trotz dieses Schicksalsschlages konnte das Ehepaar Brüll wieder in Innsbruck Fuß fassen. Rudolf Brüll gelang es nach jahrelangem Kampf, das zwischenzeitlich „arisierte” Möbelhaus wieder in seinen Besitz zu bringen. Er wurde von der Landesverwaltung zum Ansprechpartner in jüdischen Belangen ernannt. Ab 1952 baute er mit großen Eifer die Israelitische Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg auf, deren Präsident er bis zu seinem Tod 1957 blieb. Über das weitere Leben von Ilse Brülls Mutter Julie ist leider wenig bekannt, sie starb 1972 in Innsbruck.
Das Schicksal Ilse Brülls und ihrer Familie bleibt, so wie jenes der zahllosen weiteren direkten und indirekten Opfer des NS-Regimes, unvergessen.
Weiterführende Links:
- Ilse Brüll in der Zentralen Datenbank der Namen der Holocaustopfer von Yad Vashem
- Eintrag zu Ilse Brüll auf encyclopedia.com
- Rudolf Brüll in der Genealogiedatenbank des Jüdischen Museums Hohenems
- Interview mit Ingeborg Brüll im Virtuellen Haus der Geschichte (Videos leider nicht mehr verfügbar)
- Virtuelle Stadtrundfahrt zu den Schauplätzen des Pogroms in Innsbruck vom 9. auf den 10. November 1938
- Rekonstruktion der Pogromnacht in Innsbruck
- Website der Israelitischen Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg
Beitragsbild: Ilse und Rudolf Brüll am Grünwalderhof in Patsch, nahe Innsbruck. Privatsammlung von Ingeborg Brüll, unbekannte*r Fotograf*in.
Anmerkung: Die Zitate von Ingeborg Brüll wurden der Website des Virtuellen Hauses der Geschichte entnommen und stammen aus einem Interview von Ruth Deutschmann aus 2008. Sie wurden zur Verbesserung der Lesbarkeit leicht adaptiert.