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Upcycling der Traditionen im Tirol-Roman “Der tanzende Berg”

In ihrem neusten Roman, Der tanzende Berg, entführt Elisabeth R. Hager die Lesenden in ein Tiroler Bergdorf und zur dort lebenden Tierpräparatorin Marie Schreiber, einer Frau, die nicht in die gesellschaftlich bestimmten Muster passt.

Die Autorin Elisabeth R. Hager stammt aus dem Tiroler Unterland und studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Christliche Philosophie in Innsbruck. Mittlerweile lebt sie in Berlin. Der Bezug zur Region, in der sie aufwuchs, ist in ihren Büchern sehr präsent: Ihre beiden Romane Kometen und Fünf Tage im Mai spielen in Tirol und sind stark mit der Bergwelt verknüpft. Auch in ihrem soeben erschienenen Werk Der tanzende Berg spielen die Berge nicht nur im Titel eine bedeutende Rolle. Mit diesem Buch bekommt nun auch der Kalkstein, der letzte der drei Berge, die den Ort ihres Aufwachsens umgeben, seine Geschichte.

Die Protagonistin von Der tanzende Berg heißt Marie. Nach Jahren kehrt sie ihrem Leben in Wien den Rücken und führt seitdem, bei ihrer Tante Hella am Kalkstein wohnend, das Handwerk ihres verstorbenen Onkels weiter: Taxidermie, das Ausstopfen von Tierkörpern. Von den örtlichen Jägern wird sie als Frau nicht ernstgenommen, dementsprechend rar sind die Aufträge – bis sie ein besonders lukrativer Anruf erreicht: Innerhalb von 12 Stunden soll sie das Schoßhündchen der Hotelerbin im Schickeria-Nachbarort präparieren.
Die Lesenden begleiten die Protagonistin durch diesen Tag im Bergdorf, folgen ihren Handwerksschritten am toten Tier und den Gedanken an ihre kürzlich verstorbene Liebe, Youni. Niemand im Dorf redet über ihn, der als Kind aus Jugoslawien ins Tiroler Dorf kam und nicht ins Muster der gesellschaftlichen Erwartungen passte. Alle schweigen über ihn, den es „zerbröselt“ hat.

An diesem Tag taucht auch noch die seltsame Butz auf, während Marie mit der Hilfe von Tante Hellas Haushaltstipps den Chihuahua bearbeitet. Die Butz wuchs im selben Ort auf und ist eine Frau die „zu groß für ihre Welt“ ist und nicht in die Umgebung passt. Sie ist die Erste, die das Schweigen um Younis Tod durchbricht.

So wird die Butz für diesen einen Tag ein Teil von Maries Arbeitstag und hilft ihr dabei, den Hund zu bearbeiten. Beide sind Frauen, die aus den Mustern fallen. Außenseiterinnen, die versuchen, ihren Platz zu finden zwischen dem engen Netz des Dorfes und der Anonymität in der Welt außerhalb. Gemeinsam arbeiten sie gegen die Zeit, um den Hund auszustopfen, begleitet vom Ticken der Eieruhr, das bis unter die Haut geht – und das ganze Tal zum Erbeben bringt.

Noch hatte sie sich nicht entschieden, was besser war: Als Bloody Mary inmitten dieser wunderschönen Landschaft, doch zugleich eingezwängt im Schraubstock der dörflichen Sozialkontrolle zu leben, oder frei von jeder Kontrolle, doch auch ungebunden, wurzellos und überflüssig in der Stadt.“

S. 35

Der tanzende Berg ist ein Roman über Charaktere, die in einer traditionsgeladenen Umgebung aus der Norm fallen. Sie sind zornig auf die Strukturen und die Menschen, die diese heimatliche Gegend prägen. Gleichzeitig sind es Figuren, die erfüllt sind von Liebe für genau diesen Ort und für die Vielfalt der Menschen, deren Horizont sich von den schroffen Bergwänden nicht begrenzen lässt.

Mit unglaublichem Feingefühl für Sprache beschreibt die Autorin den Alltag am Berg, den Trubel im Tal und die Menschen dazwischen. Es ist ein Buch voller Zerrissenheit zwischen einfachem Leben und Geldhaufen, zwischen „Zerbröseln“ und Verschwinden, Sprachlosigkeit und Liebe. Die Mischung aus dieser ehrlichen Auseinandersetzung mit Heimat, Feminismus – gespickt mit natürlicher Körperlichkeit – und einer ordentlichen Portion Gesellschaftskritik vermittelt einen neuen Blick auf altbekannte Täler und Strukturen.

In Hagers Heimatbegriff steckt sehr viel Tiefgang, es ist die rohe Auseinandersetzung mit dem Leben zwischen den Bergen, welche als so passende Metapher für die Gesellschaft dient: Die Zerrissenheit der Menschen, die den Gipfeln der Kalkbergkette gleicht, die Schluchten und begrenzten Horizonte einiger Orte und Personen, die Nähe zur Natur und der Blick von oben hinab – wehmütig und liebend zugleich.

  „Die Spitzen des Wilden Kaisers hatten viel gesehen. In ihnen pressten sich Erinnerungen aus Jahrmillionen zusammen. An das Meer, aus dem alles kam. An die Tiere und Pflanzen, die hier gelebt hatten. Und an die Menschen und die kurze, doch verheerende Spanne ihrer Existenz auf dem Planeten. Der Berg trug unzählige Geschichten in sich von Wut, Trauer, Schmerz, Leichtigkeit und Liebe. Was war der Stein denn anderes als Milliarden Erinnerungen, Milliarden Gefühle, verdichtet auf engsten Raum?“

S. 62
Elisabeth R. Hager

Auszüge aus dem Gespräch mit der Autorin:

Das sehr präsente Thema des „Zerbröselns“ findet sich schon in titelgebenden Berg, schildert die Autorin Elisabeth R. Hager im persönlichen Gespräch: Felsmaterial bildet einen Berg, der scheinbar fest und unverrückbar steht. Dabei gibt es aber immer wieder Steine, die nicht hineinpassen, aus diesem Massiv herausfallen, und in viele kleine Teile zerspringen. Dies ist auch auf die im Roman beschriebene Gesellschaft umlegbar: Es sind die Privilegierten und Reichen, die den Status Quo festlegen und dadurch bestimmen, welche Strukturen vorherrschen. „Zum Zerbröseln verdammt scheinen die anderen – die Menschen ohne Wurzeln im Ort, die Fremden, die keinen kennen, Benachteiligte, … Aber muss immer etwas zerbröseln, muss immer etwas weichen?“, fragt die Autorin. Mit ihrem Roman möchte sie diese dominanten Strukturen in Frage stellen und gleichzeitig für das Aushalten der Ambivalenz eintreten.

Denn ein weiterer Schwerpunkt des Romanes liegt auf dem Umgang der Charaktere mit Heimat: Diese scheint ein Ort zu sein, wo man zerbröckeln oder verschwinden kann, wenn man aus dem Muster fällt. Gegen diese Dualität möchte Hager sich stellen, sie betont das Zwischendrin dieser Flucht- oder Anpassungsmechanismen: „[Mein Umgang mit Heimat] ist ein emanzipatorischer Akt der Aneignung. Heimat ist für mich, wo man sich zuhause fühlt, es können auch mehrere Orte sein. Diese eigene Heimat besteht ganz unabhängig von anderen Menschen, die an diesen Orten leben, und deren Sichtweisen.“

Eine heimatliche Verbindung, die Elisabeth R. Hager in diesem Zusammenhang nennt, ist die zwischen Marie und ihrer traditionsbewussten Tante Hella, die gleichzeitig liebevoll und von Spannungen geprägt ist: Die beiden vertreten politisch und gesellschaftlich sehr konträre Werte. Trotzdem (und auch dadurch) ergänzen sie einander und arbeiten auf humorvolle Weise mit modernen und traditionsbewussten Ansätzen zusammen. Es sind Konstellationen wie diese, die dem Althergebrachtem trotz aller Kritikwürdigkeit einen wertschätzenden Platz geben, eingerückt in den Diskurs dieser Zeit.

Wichtig sei ihr, so die Autorin, gerade die Ambivalenz, die zwischen dominanten und prägenden Dualismen liegt: Im Bergdorf, im Kessel zwischen den Bergen liegend, trifft eine Vielfalt von Menschen auf engem Raum zusammen, auch wenn das auf den ersten Blick nicht immer ersichtlich ist. Die Begrenztheit der Region führt auf mehreren Ebenen dazu, dass Distanzierung innerhalb dieses Bereiches nicht immer möglich ist; es müssen innerhalb des Platzes, den das Leben im Dorf zur Verfügung stellt, Wege des Miteinanders gefunden werden.
Gleichzeitig, so betont die Autorin im Gespräch, darf dieser Raum nicht nur den sonst schon lauten Stimmen überlassen werden.

So zeigt der Roman selbst, was alles zwischen und auch außerhalb von „zerbröseln oder verschwinden“ liegen kann.

Vielen Dank an Elisabeth R. Hager für das wunderbare Gespräch und das Vorabexemplar des Buches!
Der tanzende Berg erschien am 20. August bei Klett-Cotta und ist in allen Buchhandlungen verfügbar.


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