Ein Annäherungsversuch
„Wer bin ich?“ Eine einfache, aber doch so schwierige Frage. Eine Frage, die mir vor ein paar Tagen eine Therapeutin stellte. Eine Frage, die ich nicht beantworten konnte – und eine Frage, die ich seitdem mit mir herumtrage.
Ich versuche einen Vorstellungstext zu verfassen. Ich könnte schreiben: „Nach meinem Biologiestudium in Mainz bin ich nach Innsbruck gekommen, um hier endlich molekulare Medizin im Master zu studieren. Unter der Woche bin ich oft beim Schwimmen, Radfahren, Laufen oder Klettern anzutreffen und am Wochenende bin ich politisch recht aktiv. Außerdem höre ich gerne Musik, würde gern mehr Musik machen und im Sommer habe ich mit dem Zeichnen begonnen.” Diese Sätze beschreiben zwar, was ich gerne mache, aber beschreiben sie auch, wer ich bin und was mich ausmacht?
Ich starte einen neuen Versuch: „Ich bin Tochter, Schwester, Zwillingsschwester, Halbwaise, Freundin, Mitbewohnerin, Vertraute. Aber ich bin auch Biologin, Forscherin, Liebhaberin, Sportlerin, Denkerin, Aktivistin, Texterin.“
Mein Ausweis sagt anderen sehr genau, wer ich bin. Dieser ist meine Identität für den Staat. Aber was ist meine Identität für mich selbst, welche Identität habe ich für Außenstehende?
Fragt man Google nach “Identität”, sind die ersten Ergebnisse „Echtheit einer Person oder Sache; völlige Übereinstimmung mit dem, was sie ist oder als was sie bezeichnet wird” und als Begriff aus der Psychologie: „als »Selbst« erlebte innere Einheit der Person” (Definitionen von Oxford languages)
Identität gestalten
Jeden Tag zeichnen wir ein Bild von uns selbst. Wir lernen neue Leute kennen und können entscheiden, wie wir uns vorstellen, was wir über uns erzählen, was wir verheimlichen und worüber wir reden. Wir erstellen Lebensläufe, Socialmedia-Accounts, Dating-Profile. Dabei haben wir zunächst selbst die Macht darüber, zu zeigen wer wir sind. Doch je besser wir Menschen kennenlernen, je näher sie uns kommen, desto mehr geben wir bewusst und unbewusst über uns Preis.
Bei jedem neuen Kontakt spielen zunächst Fakten und Zuordnungen eine große Rolle. Herkunft, Genderidentität, Ausbildung, Hobbies, Interessen. Dass einige dieser Informationen unter dem Gesichtspunkt der Diskriminierung problematisch sind, steht außer Zweifel. Dennoch helfen diese Informationen, sich ein Bild vom Gegenüber machen zu können und dessen Sozialisation und Persönlichkeit einzuschätzen. Das Bild von unserem Gegenüber ändert sich jedoch mit der Zeit, es wird detailreicher und anfängliche Annahmen verschieben sich. Es ist schwer möglich, direkt in einer halben Stunde die gesamte Identität und Persönlichkeit mit all ihren Facetten zu erläutern. Und das ist auch gut so.
Dass wir uns mit bestimmten Eigenschaften vorstellen oder diese Eigenschaften vom Gegenüber erfragen, hat eine Berechtigung. Denn Identität formt sich mit der Entwicklung. Sie ist fluide. Wir sind Ergebnis unserer Vergangenheit, unserer Erziehung, unserer Beziehungen. Ergebnis unserer Erfolge und unserer Misserfolge. Aber auch Ergebnis unserer Sozialisation. Und dazu zählen neben unseren sozialen Kontakten auch die Eigenschaften unseres Umfeldes und das ist nun mal auch von Herkunft, Sprache, Religion, Tradition, Kultur, sozialer Schicht und vielem mehr geprägt.
Die Identität, welche von außen vermutet wird, hilft bei Zu- und Einordnung anderer Menschen. Betrachten wir die Formung der Identität von der anderen Seite, erscheint sie ebenfalls als Mittel sozialer Verortung.
Identität entwickeln
Auch wenn diese Einflüsse eine große Rolle in unserer Identitätsentwicklung spielen, formen wir uns mit der Zeit immer weiter. Einige passen sich an unterschiedliche Faktoren an, andere grenzen sich bewusst ab. So können gleiche Einflüsse sehr unterschiedlich auf Personen und deren Identität wirken. In Zeiten und Umständen großer äußerer Wandlungen stabilisiert die Identität daher als innere Einheit. Der Blick auf die eigene Identitätsschaffung bezieht auch das menschliche Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung mit ein. Wer seine Identität durch Interessen, Kultur, Religion nach außen und innen definiert, findet schneller Gleichgesinnte. Nicht umsonst heißt es „sich mit anderen identifizieren können“.
Doch egal, ob ich als Christin getauft wurde, ob ich mich heute als Sportlerin sehe oder ob ich politisch eine klare Meinung habe; schon morgen kann ich zu anderen Meinungen, Werten und Interessen kommen und meine Identität dann anders darlegen. Während ich meine Werte und Interessen nach außen vertrete und diese Interessen sich in verschiedenen Gesellschaftskreisen unterscheiden können, begreife ich meine eigene Identität als die innere Einheit all dieser Zustände.
Identität hinterfragen
Die Frage nach der eigenen Identität wird uns immer beschäftigen – mal mehr mal weniger. Aber letztendlich ist es nur förderlich für das Selbst und den eigenen Charakter, sich immer wieder zu reflektieren, sich in Frage zu stellen und die eigenen Normen neu auszuloten: Herausfinden, was die eigenen Werte sind, was und wer wichtig ist und ob man zufrieden mit sich selbst ist.
Zugegebenermaßen hat die Therapeutin mehr gefragt: „Was für ein Mensch sind Sie, was macht Sie aus?” Auch diese Fragen lassen sich schwer beantworten. Aber wer weiß, vielleicht liest sie diesen Artikel und kann danach ein Puzzleteil mehr zu ihrem Bild von mir – ihrer Definition meiner Identität – hinzufügen.
Anmerkung: Wir alle haben eine Identität – und diese macht uns einzigartig und individuell – und wenn du nicht genau beschreiben kannst, wer du gerade bist oder keine Definition deiner Selbst geben kannst, dann ist das in diesem Moment genau richtig und wichtig für dich und deine Individualität. Denn das ist Ausdruck dafür, dass du dir Gedanken machst und dich selbst reflektierst. Du musst auch nicht Sportler*in, Studierende oder Buddhist*in sein, um dich gut mit Sporttreibenden, Studierenden und Buddhist*innen zu verstehen.
Die folgende Frage der Therapeutin möchte ich gerne weitergeben: “Sind Sie denn bei sich?”
Fotos: Priska Wörl