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Erinnerungen an eine Kindheit

Eine Kurzgeschichte über eine Kindheit, die niemand erlebt hat. Bruchstücke aus einem Leben, das niemand lebt.

Meine Erinnerung beginnt in einem Winter, im Alter von 7 oder 8 Jahren. Ich war ein fröhliches Kind und lebte mit meinen Eltern und meinen Brüdern auf dem Land. Wir hatten gerade eine Katze bekommen, die immer von unten an den Christbaum sprang und dabei ganz viele Christbaumkugeln zerstörte. Ich genoss das Klirren und die Aufregung, die ein so kleines Wesen auslöste, mein Bruder hasste es. Er hasste die Katze, der wir auch nach vier Monaten noch keinen Namen gegeben hatten, weil wir uns nicht auf einen einigen konnten. Zumindest hatten wir unsere Auswahl durch lange Gespräche auf drei Namen reduzieren können: Milka, Huhn oder Toffy. Der Vorschlag Huhn stammte von mir, ich war sehr stolz darauf und war begeistert von der Idee, ein Tier nach einem anderen zu benennen. Ich stellte mir vor, durch den Garten und das Haus zu laufen und immer wieder “Huhn” zu rufen nur damit dann eine Katze zu mir kommen würde. Leider ist unsere Katze keine Katze, die kommt, wenn man sie ruft und leider heißt sie auch nicht Huhn, sondern immer noch Katze. Wenn wir unterscheiden wollen, ob Katzen allgemein oder unsere Katze gemeint ist, sage ich manchmal auch Katz. Dann weiß jede*r, um wen es geht.

Der Grund, warum wir eine Katze bekommen haben, war ich. Ich spielte nämlich sehr gern allein, konnte mich stundenlang in meinem Zimmer beschäftigen und Playmobil spielen oder Ewigkeiten im Wald herumstreifen und mit Stöcken im Boden stochern. Auf einem meiner Streifzüge im Wald grub ich mit meinen Händen im gefrorenen Boden und fand einen großen, rosaroten Wurm. Ich war unglaublich angeekelt, verspürte aber im gleichen Moment eine große Neugierde. So hin und her gerissen näherte ich mein Gesicht dem starren, fast durchsichtigen Körper, um mir jede Rille und jeden Ring genau anzusehen. Als sich der Körper auf einmal unter meinem Blick wand, schreckte ich zurück, gleichzeitig interessiert aber auch dem Übergeben nahe. Ich hob den Wurm mit spitzen Fingern hoch, legte ihn auf einen Stein und baute ein Haus um ihn herum. Er würde mein Haustier werden, beschloss ich und ich wäre Forscherin. Vor Kurzem hatte mir meine Mutter eine Dokumentation über Tierversuche gezeigt und darin wurden Forscher*innen gezeigt, die Hasen mit Creme einrieben. Meine Mutter zeigte mir und meinen Brüdern oft solche Filme. Für mich waren sie gruselig, für sie gehörten sie zum Bildungsprogramm. Sie wolle uns zu kritischen Kindern erziehen, sagte sie immer ganz stolz vor ihren Freundinnen bei Kaffee und Kuchen. Manchmal tranken sie auch Sekt und rauchten. Ich fand es lustiger, wenn sie Sekt tranken und rauchten, weil sie danach ein so schlechtes Gewissen hatte, dass ich fernsehen durfte, und zwar nicht nur Dokumentationen, sondern auch Jim Knopf, in den ich über alles verliebt war. Mit meinem Vater schaute ich immer Spielfilme, in denen es um den Zweiten Weltkrieg ging. Er dachte, ich würde mit dem emotionalen Zugang zu der Thematik mehr damit anfangen könnten. Meine Mutter fand es zu gewalttätig. Der einzige Film, den wir gemeinsam anschauten, war “Die Welle” von Alex Grosshoff. Beide liebten die aufklärerisch-kritische Herangehensweise. Ich fand den Film blöd, weil wir ihn auf Englisch schauten und ich nichts verstand und nach dem dritten Mal langweilig. Aber jetzt würde ich nie wieder Tierversuch-Filme oder Kriegsdramen ansehen, denn ich hatte mein eigenes Tier und wäre sogar die viel bessere Tierforscherin.

Von nun an kam ich jeden Tag zu meinem Wurm, legte ihm Erde ins kleine Haus, versuchte ihn mit Ameisen zu füttern oder ihm ein Bett zu bauen, was mehr oder weniger gut klappte. Ich würde den Wurm trainieren und ihm beibringen, sich auf Kommando zu bewegen oder stillzustehen. Dafür drückte ich ihn, wenn ich „Halt“ sagte, mit der Fingerspitze am Boden fest. wenn ich los sagte, stupste ich ihn so lange an, bis er sich bewegte. So verbrachte ich zirka eine Woche im Wald, bis ein Wettertief Sturm über das Gebiet, in dem ich lebte, brachte. Tagelang konnte ich nur Zeit drinnen verbringen und versuchte, mich irgendwie abzulenken.

Am ersten Tag spielte ich Playmobil, am zweiten Tag bemalte ich mit meiner Mutter Tassen und dann Ostereier, obwohl Dezember war, aber ich wollte unbedingt und wir hatten noch Farbe übrig. Am dritten Tag schlugen mein Bruder und ich uns so fest, dass ich einen Zahn verlor. Mein Vater reagierte panisch und wollte unbedingt zum Arzt fahren, als ich mich heulend, mit blutverschmiertem Mund zu ihm kuscheln wollte. Leider waren die Straßen so verschneit, dass man nicht zum Talarzt fahren konnte, ohne sich in Todesgefahr zu begeben. Der Talarzt war eigentlich gar kein Arzt, er hatte sein Medizinstudium abgebrochen, weil seine Freundin schwanger war. Dennoch praktizierte er seit mehr als 30 Jahren und hatte Gerüchten zufolge sogar schon einige Kühe und Schafe behandelt. Auf jeden Fall konnten wir nicht zu ihm fahren. Meine Mutter rief meine Großmutter an, die im Untergeschoss unseres Hauses wohnte. Schweratmend stieg sie die Treppen zu uns hoch, einen Beutel Kamillentee zwischen ihren Brüsten. Alles, was in etwa die Größe eines Teebeutels hatte, steckte sie zwischen ihre Brüste, damit sie die Hände frei hatte. Manchmal fand ich Toffees, wenn ich ihr unters T-Shirt langte. Sie kochte Wasser, beruhigte meinen Vater, ließ mich Kamillentee spülen und stieg langsam, Treppe für Treppe, die Stufen wieder nach unten. Ich liebte meine Großmutter für ihre Ruhe und dafür, dass sie so herrisch war. Am vierten Tag beschloss ich, Kekse zu backen, bei denen ich Mehl mit Stärke und Salz mit Zucker verwechselte. Es war eine Riesensauerei und ich bekam großen Ärger. Am fünften Tag hielt es meine Mutter nicht mehr aus. Sie habe Kopfschmerzen von unserem Geschrei, sagte sie, packte uns in warme Ganzkörperskianzüge und jagte uns nach draußen. Es war eisig kalt aber dennoch lief ich bis zu der Stelle, an der ich mein Forschungsobjekt zuletzt niedergelegt hatte. Und tatsächlich: In dem Steinhaus lag mein Wurm, weiß wie immer. Ich sagte “Los”, aber er bewegte sich nicht. Ich stupste ihn mit meinen dicken Handschuhen an, aber er bewegte sich nicht. Ich zog meine Handschuhe aus und bemerkte, dass er ganz hart war. Ob er erfroren war? Furchtbar niedergeschlagen packte ich ihn in meine Handfläche und lief nach Hause. Ich setzte ihn in ein Sektglas meiner Mutter und stellte ihn in mein Zimmer.

Am sechsten Tag waren ich und mein Bruder krank. Wir husteten ununterbrochen und meine Mutter versuchte, uns mit Hustensaft ruhigzustellen. Ich war wegen dem Wurm-Dilemma aber so aufgekratzt, dass ich keine Sekunde ruhig sitzen konnte. Er bewegte sich nämlich immer noch nicht und als ich meiner Mutter davon erzählte, verstand sie den forschenden Aspekt überhaupt nicht und warf mein Tier mitsamt dem Sektglas aus dem Fenster. Hysterisch schrie ich herum, Tränen liefen mir gemeinsam mit Schnodder und Hustenschleim über die Wangen – es war dramatisch. Meine Mutter musste mir versprechen, ein Haustier zu besorgen.

Am siebten Tag war der Sturm an seinem Höhepunkt angelangt und wir immer noch krank. Meine Mutter, die kein Versprechen brechen konnte und die die Idee einer Katze eigentlich ganz gut fand, versuchte den ganzen Tag eine Katze zu organisieren, was sich wegen dem vermehrten Netzausfall als schwierig darstellte. Schließlich hörte sie von einer Nachbarin, dass die Katze eines Mann namens Nikolaus gerade einige Babykatzen bekommen hatte. Sie war begeistert, so war für sie ein Haustier zum idealen pädagogischen Probierfeld für Kinder geworden. Am achten Tag war der Sturm vorbei und wir hatten eine Katze. Sie hat immer noch keinen Namen, springt nicht mehr von unten an unseren Christbaum und kommt immer noch nicht gelaufen, wenn wir sie rufen. Sie ist alt, liegt gern am Ofen. Wenn  – die Katze und ich – allein zu Hause sind, nenne ich sie manchmal Wurm, in Hommage auf mein erstes Haustier und weil ich es immer noch lustig finde, ein Tier nach einem anderen zu benennen. „Wurmi, wo bist du mein Schatz?“


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