Es ist Mitte September, die Schulen haben vor wenigen Tagen wieder begonnen und auch die ersten Regenschauer und kühleren Nächte bereiten uns wieder auf den Herbstbeginn vor. Der Sommer neigt sich dem Ende zu und die Brenner-Autobahn kann nach drei langen Monaten wieder ein kleines bisschen aufatmen. Jedes Jahr zieht es Massen an, Urlauber*innen aus der ganzen Welt nach Italien auf der Suche nach ihren ganz persönlichen zwei Wochen Genuss. Aber was genau machen unsere Nachbar*innen im Süden so anders, dass wir so fasziniert sind vom italienischen Sommer?
Das italienische Lebensgefühl
Wenn man an “la dolce vita” denkt, fallen vielen sofort die alten Bilder aus den 80er Jahren ein, deren inszenierte Posen heutzutage von zahlreichen Nutzer*innen auf Instagram kopiert werden. Wallende Sommerkleider mit Polka-Muster, schicke Sonnenbrillen, braun gebrannte Körper, knallgelbe Vespas und natürlich das Gelato. Ich selbst habe klare und schwüle Nächte vor Augen, abgenutzte Pflastersteinstraßen und Szenen wie sie in Filmen mit Audrey Hepburn oder Anita Ekberg gezeigt werden. Das süße Leben, wie es in dem 1960 veröffentlichten und gleichnamigen Film heißt, hat uns gezeigt, wie wir die Städte Italiens erleben könnten, wenn wir uns nur auf sie einlassen würden.
Auch ich habe dieses Jahr Zeit in Italien verbracht und möchte mich keineswegs von den anderen Tourist*innen abheben, reise auch ich mit meinem Rucksack, der Lichtschutzfaktor 50 Sonnencreme und bereits daheim geplanten Outfits an. Dieses Jahr habe ich jedoch den Menschen auf den Straßen aber auch unserem eigenen Urlaubsverhalten besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Denn genau wie in jeder anderen Stadt sind die tausenden Tourist*innen auch hier in Italien auf der Jagd nach dem besonderen Lebensgefühl, welches den jeweiligen Ort ausmachen soll.
Über die Momentaufnahme im Urlaub
An unserem ersten Tag besuchen wird das Pantheon in Rom. Die Schlange zum Anstehen verläuft bei unserer Ankunft bereits in einem Halbkreis um den Platz vor dem Gebäude. Zu unserer Überraschung geht es äußerst schnell voran. Die Massen drängen in dem gleichen Tempo hinaus, wie sie vor wenigen Sekunden noch hinein wollten.
Das eigentliche Phänomen – und aus soziologischer und psychologischer Perspektive bestimmt Interessantere – ist jedoch der Moment, sobald jede*r Einzelne die Schwelle zum Gebäude erreicht und es betritt. Denn auch hier wird nach der goldenen Regel des Tourismus gehandelt. Ein Bauwerk, das älter als 50 Jahre ist, soll und muss zuallererst durch den Bildschirm der Handykamera betrachtet werden.
Loslassen
Bereits an diesem ersten Tag fällt mir besonders die Einstellung zum “sich einfach mal fallen lassen” auf. Die gewisse Sorglosigkeit, mit der die Italiener*innen den Tag zu beginnen scheinen und eine mangelnde Fähigkeit von Tourist*innen, die genau daran scheitern. Denn bei dem Großteil der Besuchenden scheint diese Fähigkeit nicht existent zu sein. Es besteht ein Plan wie der Tag verbracht werden soll, ohne Zweifel. Denn ohne Plan ist ein bemerkenswerter Anteil der Menschheit äußerst aufgeschmissen.
Aber ist es nicht eigentlich so, dass wir gerade im Urlaub die Seele baumeln lassen sollten? Warum also hört sich das Programm, durch das wir hetzten, oftmals vielmehr nach Arbeit an, als nach Genuss? Kolosseum, Petersdom, Spanische Treppe, Pantheon, Forum Romanum, usw. Die Leute starren auf die geöffnete Google Maps App und suchen den schnellsten Weg zwischen Kirche A und Kirche B. Es ist wie eine To-Do Liste, die abgehakt werden muss, damit man wieder nach Hause zurückzukehren kann, um sich wieder den To-Do Listen des Alltags zu stellen. Viele fühlen sich nach der Urlaubspause erchöpfter als zuvor.
In einem Supermarkt in Rom habe ich die Bekanntschaft eines älteren Herren aus Pisa gemacht, als wir beide auf der Suche nach dem Pastaregal waren. In Italien ist es ein leichtes, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Nach nicht einmal fünf Minuten führte er mich mit einer Liebe zum Detail, ja beinahe einer Passion, von Regal zu Regal, um mir Schritt für Schritt das Rezept einer perfekten Spaghetti Carbonara zu lehren.
Warum fahren wir eigentlich in den Urlaub
Ich kann kochen. Zumindest halte ich mich für jemanden, der seine Küche bis dato noch nie in Brand gesetzt hat. Dennoch habe ich es nicht für möglich gehalten, wie viel Detail in einer guten Carbonara stecken kann. (Ob mir das Rezept am selben Abend gelungen ist oder nicht wird an dieser Stelle absichtlich nicht erwähnt.) Gleichzeitig kommt mir ein Gedanke: Waren die Tourist*innen im Pantheon mit ihren Handykameras genauso angetan, wie dieser Mann von seiner Carbonara? Werden sie daheim mit der gleichen Begeisterung davon erzählen wie der Mann aus Pisa von der Wichtigkeit bei der Auswahl des geeigneten Specks für die Soße?
Der Herr aus Pisa befand sich mitten im Alltag. Sicherlich begeistert er sich bei seinem Wocheneinkauf für die kleinen Details. Wir als Reisende beschäftigen uns nur mit den großen Dingen, den scheinbar wichtigen. Aber können wir uns für die großen Begebenheiten begeistern, wenn wir es nicht einmal mehr schaffen die kleinen Sachen des (italienischen) Alltags zu schätzen?
Tourismus wandelt sich, genau wie unsere Gesellschaft. Die Städte passen sich ihm an. Straßenverkäufer*innen bieten mittlerweile alles an, um uns Tourist*innen das “süße Leben”, das romantisierte Ideal der jeweiligen Stadt zu verkaufen. Sie verteilen Rosen vor dem Eiffelturm, bieten Polaroids am Trevi Brunnen an oder romantische Kutsch- und Gondelfahrten in Wien und Venedig. Doch dabei sind es mittlerweile genau diese Aktionen, die teilweise verpönt sind.
Richtig und Falsch
Die “echten” Tourist*innen, die “Coolen”, erleben die Stadt nicht auf diese langweilige Art und Weise, die man versucht uns vorzuschreiben. Mir stellt sich die Frage wie selbst diese Gruppe von alternativen Reisenden dies innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen schaffen will.
Das süße Leben fliegt nicht einfach auf einen zu, sobald man sich in eine der überteuerten Touristenfallen setzt, um einen Aperol für neun Euro zu trinken, die Sonnenbrille auf der Nase für ein Foto posierend. Das sich nach Außen präsentieren ist ganz anders als das Erleben.
Die Stadt ist eine Filmkulisse, die nicht der Realität entspricht und den ganzen Tag über versuchen die Leute, sich in diese Filmkulisse hineinzuprojizieren. Mittlerweile sind die Vespas beispielsweise kein Symbol mehr für aufregende Ausflüge, sondern ein Zeichen für die vollgestopften und gefährlichen Straßen der italienischen Hauptstadt. Unser Versuch, “la dolce vita” zu inszenieren, lässt uns den Funken Wahrheit der Realität vergessen.
Der Versuch des Erlebens wird von unserem Drang überschattet, genau dieses Einstellung, diese “Ästhetik” einfangen zu wollen.
Es gibt keine richtige Art und Weise, wie man “la dolce vita” erlebt. Jede und jeder hat eine andere Vorstellung von seinem oder ihrem Aufenthalt. Es ist das Gefühl, die Stadt mit allen Sinnen zu genießen und zu erleben. Wie du das anstellst ist dir selbst zu überlassen. Aber dennoch könnte sich vor, während und auch nach einem Urlaub überlegt werden, was genau eigentlich das Ziel der Reise ist. Möchte ich selbst sehen oder möchte ich auf Instagram gesehen werden?
An dieser Stelle werde ich meinen Beitrag wohl oder übel beenden müssen, um meinen privaten Instagram Post hochzuladen. #italy #rome #yolo # wheninrome
So ganz lösen aus der Tourist*innenfalle kann ich mich wohl auch nicht.
Fotos: anni.ludwig