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Flucht in die Realität

Im Sommer arbeite ich auf einer Hütte in den Bergen. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, ich bin umgeben von Natur, beim Einschlafen höre ich nur Kuhglocken und Vogelgezwitscher (und den Stromgenerator). Ich arbeite mit lieben Menschen zusammen und fühle mich in den Bergen wohl. Es wäre die perfekte Zeit, um mein Handy auszuschalten, den Laptop zu Hause liegen und die Welt hinter mir zu lassen, einfach, weil es so problemlos möglich wäre – hier oben kann ich ja doch nichts im Tal bewegen. Aber dennoch hänge ich an gewissen Dingen, die ich einfach nicht hinter mir lassen kann. Warum Eskapismus (für mich) nicht funktioniert.

Fast schon beschämt klappe ich am ersten Abend auf der Hütte meinen Laptop nach zwei Stunden YouTube zu. Meine Zeit habe ich damit verbracht, Annikazion zuzuschauen, wie sie Princess Charming kommentiert. In der Zeit, in der ich für die Uni Dinge erledige, finde ich das noch ok. Trash-TV am Abend, um meinen Kopf zu entspannen – oder so ähnlich. Jetzt habe ich aber seit rund zwei Wochen frei und weil Annikazion die zweite Staffeln noch nicht gänzlich kommentiert hat, fange ich eben wieder bei der ersten an. Warum ich das mache, ist mir unklar. Es ist ja nicht so, dass sich neben meinem Bett sechs Bücher, die gelesen werden wollen, gefährlich aufeinanderstapeln.

Ich kann meinen Konsum nicht hinter mir lassen. Vermutlich kann das damit begründet werden, dass er mir Stabilität gibt, etwas Konstantes, zu dem ich an diesem nicht mehr ganz so fremden Ort zurückkehren kann. Auch kann ich den Stress hinter mir lassen, wie ich es von Uni-Tagen gewöhnt bin. Ich kann nicht fliehen, weil ich begleitet bin von Stress und meine Kompensationsmethoden nicht ganz so ausgereift sind, wie ich es gern hätte.

Und auch hier oben checke ich in den Pausen regelmäßig, ob ich neue Nachrichten bekommen habe. Nachrichten, die eigentlich im Großteil unwesentlich sind und bei denen es egal wäre, ob ich erst zwei Tage später darauf antworte. Aber wenn das Wetter einmal schlecht ist und ich keinen Empfang habe, warte ich sehnsüchtig auf Sonne, sodass ich zumindest dann das so vertraute Klingeln höre, wenn Nachrichten eintrudeln. Vor Kurzem, inmitten von drei Tage Regenwetter, bin ich sogar extra abends ein bisschen nach oben gestiegen, um zu sehen, was mir die Welt zu sagen hat – beziehungsweise meine Oma, die mir „ein Busserl in die Berge“ schickt und mein Bruder, der fragt, ob er sich Geld von mir leihen kann – mehr war es in den letzten Tagen nämlich nicht. Aber dabei wäre es hier oben so egal, wer mich erreichen will, weil ich nicht mehr als Liebe auf telepathischem Weg versenden kann. Ich habe sogar den lieben Menschen in meinem Leben gesagt, dass ich nicht erreichbar sein werde – und bin es dann aber scheinbar doch. 

So kann ich auch nicht vor anderen fliehen, weil ich ständig in Kontakt sein kann und will. Ich habe Angst davor, vergessen zu werden und Angst davor, allein zu sein. Und so stelle ich mich sogar um Mitternacht auf diese eine Treppenstufe, die dritte von unten im zweiten Stock, weil ich weiß, dass mein Empfang dort so gut ist, dass ich nicht EDGE, sondern 3G habe – gerade genug für eine (nicht dringliche) Whatsapp-Nachricht.

Abgesehen von den Wünschen mit der Welt verbunden zu sein, gibt es natürlich auch Dinge an mir, die ich nicht hinter mir lassen kann. Durch den Prüfungsstress der vergangenen Wochen ist meine Haut gerötet, gereizt und unrein und hier oben in der frischen Luft wäre die perfekte Gelegenheit, um mein Gesicht sogar beim Arbeiten in die Sonne zu halten und meiner Regenerationsfähigkeit ihren Lauf zu lassen. Aber nein, lieber packe ich meinen vier Jahre alten Concealer ein und male mir damit brav das Gesicht an. Was für ein Blödsinn eigentlich, als ob es irgendjemanden interessiert, wie ich – die Kellnerin, aussieht. (Nachdem ich diesen Absatz geschrieben habe, trage ich übrigens keinen mehr). Auch mein Körper begleitet mich ständig. Denn obwohl die Spiegel hier auf Kopfhöhe hängen und gerade mal so groß sind, dass ich, wenn ich weit genug davon entfernt stehe, meinen Kopf sehen kann, erwische ich mich manchmal dabei, wie ich mich auf Zehenspitzen, mich verrenkend, darin betrachte. Sehe ich anders aus als noch vor einem Monat? Wie verändert sich mein Körper hier?

Mein Körper begleitet mich ständig, ich habe ihn immer im Schlepptau, er hat mich immer im Schlepptau. Wir sind eins, ich will uns eigentlich gar nicht differenzieren und mache es doch. Ich kann nicht vor mir selbst fliehen, ganz egal auf welcher Hütte ich bin oder auf welchen Berg ich steige. Probleme, die ich mit mir selbst im Tal habe, werde ich auch woanders haben. Sie lösen sich nicht durch Höhenunterschiede auf, bleiben bei mir, auch wenn ich meinen Lebensmittelpunkt um 1300 Meter verschoben habe.

Als ich heute Wäsche aufgehängt habe, ist mir noch etwas eingefallen, was nicht einfach so verschwindet, nur weil ich nicht dort bin, wo ich sonst bin: meinen Frust. Ich bin frustriert, weil ich hier auf 1935 Metern lebe und die Wäsche nur zwei Stunden benötigt, um zu trocknen. Mich ärgert, dass im Stubaital ein 60-Jähriger vermisst wird, weil es irgendwann die letzten Tage so stark gestürmt und geregnet hat. Es ekelt mich an, dass es hier jeden Tag Fleisch gibt, auch wenn ich weiß, dass es vom Ochsen ist, den ich letztes Jahr noch gefüttert habe. Es stört mich, wie unreflektiert hier weiße cis Männer oberkörperfrei oder nur in Unterwäsche herumlaufen und nicht kapieren, dass sie damit ein Privileg haben, das anderen verwehrt bleibt. Ich koche fast über, wenn ich merke, wie respektlos manche Menschen mit uns und unserer Arbeit umgehen, wenn sie mit dreckigen Schuhen über sichtbar frisch gewischte Böden laufen, ihren Müll überall herumliegen lassen, ohne Wertschätzung mit Essen umgehen, sich fast zur Bewusstlosigkeit betrinken und anzügliche Witze machen. Meine Chefin sagt: „Bei einem Ohr hinein, beim anderen wieder raus“.

Aber das kann ich nicht. Meine Werte begleiten mich auch hier. Mein Selbstwert ist auch hier vorhanden und wehrt sich dagegen, so behandelt zu werden. Die Prinzipien, die ich mir aufgebaut habe, die sich in mir gefestigt haben, habe ich auch hier. Und wenn ein 60-jähriger Mann auf mein Nachfragen, ob er gut geschlafen habe, „Ja, ich hab ’ nämlich von dir geträumt“ antwortet, muss ich das nicht süß finden, auch wenn er es so meint.

Dennoch, trotz allem, was ich mitschleppe, fühle ich mich leichter hier oben. Jeden Tag stehe ich auf mit dem Wissen, etwas machen zu können, was mir Freude bereitet. Friedlich beobachte ich Sonnenuntergänge, Murmeltiere, Kühe und Esel, die Routine der Arbeit gibt mir Sicherheit und Halt. Nie fühle ich mich der Natur so nahe und so ausgeliefert wie hier, mitten im Wald – unmöglich bei schlechtem Wetter die „Zivilisation“ zu erreichen. Dieser Ort, dieses Haus ist eines meiner „Daheims“ und nicht nur Arbeit. Dass ich hier sein kann, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.

Diese Idealvorstellung vom „Frei-Sein“, vom Eskapismus, die die Medien mir vermittelt haben, haben mich so sehr unter Druck gesetzt und mir das Gefühl gegeben, nicht einmal DAS zu können. Aber ich habe die letzten Wochen gelernt, dass sie für mich einfach nicht zutreffend sind. Ich muss nicht alles hinter mir lassen oder zu mir selbst finden oder einen neuen Glauben entwickeln. Ich kann meine Sorgen hier mitnehmen, ich kann mich mitnehmen, habe keinen Grund dafür, vor mir selbst zu fliehen und muss mich nicht schuldig dafür fühlen, dass ich bin, wer ich bin.

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