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Der Bosnien-Krieg: ein vergessener Krieg?

„Der Krieg in der Ukraine ist der erste in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.“ Diesen Satz hörte man vor allem in den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs immer wieder. Doch die Aussage ist falsch. Es ist nicht der erste Krieg in Europa seit 1945, es ist der erste Angriffskrieg zwischen zwei Staaten seitdem. Haben wir etwa die Jugoslawien-Kriege vergessen? Wie können die vielen tausenden Todesopfer, die Millionen Geflüchteten, die zerrissenen Familien aus den Kriegen in den 1990er Jahren vergessen werden? Besonders, weil sich gerade in einem der Balkan-Staaten die Fronten wieder verhärten. Der Bosnien-Krieg in Bosnien und Herzegowina ist ein komplizierter Krieg. Um jedoch heutige Konflikte zu durchschauen, muss zumindest versucht werden, die Vergangenheit zu verstehen.

Tito als Garant für Stabilität

Josip Broz Tito kreierte und regierte den Vielvölkerstaat Jugoslawien nach 1945. Er führte die im Zweiten Weltkrieg feindlich gesinnten Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien (heute Republik Nordmazedonien) als Teilrepubliken Jugoslawiens zusammen. Tito schuf einen neuen Sozialismus zwischen westlichem Kapitalismus und sowjetischer Planwirtschaft. Er investierte in Infrastruktur und verhalf Jugoslawien vom Agrarland zum Industrieland. Die Staatengemeinschaft erlebte mit Hilfe der USA ein Wirtschaftswunder und zog europäische Tourist*innen an, denen Italien zu teuer wurde.

Tito hielt die so verschiedenen Völker Jugoslawiens mit eiserner Hand zusammen. Er war kein Demokrat, sondern ein Diktator. Jegliche nationalistischen Aufstände schlug er nieder. Kommunist*innen und Staatsfeind*innen wurden auf die „nackte Insel“ verbannt und ohne Anklage eingesperrt.

Nach Titos Tod 1980 stand die Zukunft Jugoslawiens in den Sternen. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Inflation stieg. Und so weckte der wirtschaftliche Zerfall den Nationalismus in den Teilrepubliken Jugoslawiens.

Der Preis für die Unabhängigkeit

Am 25. Juni 1991 erklärten Slowenien und Kroatien ihre Unabhängigkeit. Slobodan Milošević, damaliges Staatsoberhaupt Serbiens, wollte den starken serbischen Einfluss in Jugoslawien um keinen Preis verlieren. Sein Traum waren Macht und ein Groß-Serbien. Doch seine Armee unterließ den Krieg gegen Slowenien innerhalb von zehn Tagen. Nach mehreren Monaten Krieg mit Kroatien wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Dieser Waffenstillstand 1992 war gleichzeitig der Beginn des Bosnienkriegs.

Bosnien und Herzegowina war als Vielvölkerstaat wie ein kleines Jugoslawien. Damals wie heute leben bosnische Muslim*innen (heute Bosniak*innen), katholische Kroat*innen und orthodoxe Serb*innen in einem Land zusammen. Jede Ethnie hat Gebiete in Bosnien und Herzegowina, in denen sie die Mehrheit der Bevölkerung stellt. Anfang 1992 ging alles sehr schnell. Die serbischen Gebiete in Bosnien und Herzegowina schlossen sich zu einer serbischen Republik zusammen, der Republika Srpska. Am ersten März 1992 stimmten die Bosniak*innen und bosnischen Kroat*innen für die Unabhängigkeit Bosnien und Herzegowinas von Jugoslawien. Das eigenständige Bosnien und Herzegowina wurde schnell von der Europäischen Gemeinschaft anerkannt, ganz im Gegenteil zur Republika Srpska.

Damit stand für die bosnischen Serb*innen fest, dass in ihrem bosnischen Gebiet keine Nicht-Serb*innen leben dürfen. Ihre Armee war stark und wurde von Serbien unterstützt. Serbische Paramilitärs gingen brutal vor und richteten grausame Kriegsverbrechen an, wie Folter und Vergewaltigung an Muslim*innen. Die Hauptstadt Sarajewo wurde für drei Jahre belagert und von der Außenwelt abgeschottet. Die muslimischen Einwohner*innen der Stadt waren eingekesselt und unterlegen.

Maschinengewehrstellung oberhalb der Stadt Mostar in Bosnien-Herzegowina.

Unklare Fronten

Die militärische Übermacht Serbiens sorgte dafür, dass die Republika Srpska bald weite Teile im Süden und Osten Bosnien und Herzegowinas umfasste. Die bosnischen Kroat*innen, die bis dahin gemeinsam mit den bosnischen Muslim*innen für die Unabhängigkeit Bosnien und Herzegowinas und gegen die (bosnisch-)serbische Armee gekämpft hatten, fühlten sich nun selbst bedroht. Sie sahen nicht Sarajewo, sondern Zagreb (die Hauptstadt Kroatiens) als ihre Hauptstadt an. Nun wollten auch die bosnischen Kroat*innen einen Teil des Kuchens haben und ihre bosnischen Gebiete an Kroatien anschließen. Bislang waren die Serben[i] die Brutalen, die gnadenlosen Kriegsverbrecher. Doch mit zwei statt drei Fronten wurde die Lage unübersichtlich. Die Bevölkerung eines einst geeinten Staates kämpfte gegeneinander. Bosnische Serben gegen bosnische Kroaten gegen bosnische Muslime. Bilder grenzenloser Gewalt prägten die westlichen Medien, was ein Einschreiten letztlich unabdingbar machte. Die USA schafften es, bosnische Kroaten und Muslime an einen Tisch zu bringen und sie wieder im Kampf gegen die (bosnischen) Serben zu vereinen. Der Frieden von Washington machte aus drei Fronten wieder zwei, was jedoch die Gewalt und das Morden nicht beendete.

Zum Zeitpunkt des Friedens von Washington hielt die bosnisch-serbische Armee mehr als zwei Drittel des bosnischen Territoriums. Der Staatshalter der bosnischen Serb*innen, Radovan Karadžić, wollte einen ethnisch reinen Serben-Staat in Bosnien und Herzegowina errichten. Er ließ alle muslimischen Menschen in diesem Gebiet vertreiben. 1993 gab es nur noch vereinzelte muslimische Enklaven im Norden und Osten Bosniens. Sie standen unter dem Schutz der Vereinten Nationen (UN). Zu diesen Enklaven zählte auch die Stadt Srebrenica. 1995 zog sich die serbische Schlinge um Srebrenica zu, die niederländischen Blauhelme (UN-Soldaten) waren für die serbischen Angreifer kein Hindernis. Bis zu 25.000 Menschen aus der Stadt suchten im Camp der Blauhelme Schutz. Doch als die serbischen Truppen das Camp angriffen, leisteten die UN-Soldaten keinen Widerstand. Muslimische Frauen und Kinder durften den vermeintlich sicheren Zufluchtsort verlassen. Doch die über 8.000 muslimischen Jungen und Männern wurden durch die Hand der serbischen Armee ermordet. Bis heute ist das Massaker von Srebrenica das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Unfähigkeit der Vereinten Nationen

Das Massaker von Srebrenica war verschuldet durch die Grausamkeit der serbischen Armee und ermöglicht durch die Ohnmacht der Vereinten Nationen. Viel zu spät und viel zu schlecht ausgerüstet sendeten die Vereinten Nationen Blauhelme zur Unterstützung in die muslimischen Enklaven.

Mit dem Massaker von Srebrenica wachte der politische Westen aus seiner Starre auf. Die USA unterstützten die kroatische Armee, damit diese die serbische Armee aus kroatischen und muslimischen Gebieten vertreiben. Bei der Rückeroberung ihrer Gebiete plünderten und mordeten die kroatischen Einheiten. Dieses Mal wurden Kriegsverbrechen von Kroaten an Serb*innen begangen. Als in Sarajewo im August 1995 eine Bombe einschlug, startete die Nato zwei Tage später einen Angriff gegen die bosnisch-serbische Armee. Dies war der erste Einsatz des Militärbündnisses. Er wird von vielen Seiten zu Recht kritisiert. Doch letztlich zwangen die Nato-Bomber, sowie kroatische und muslimische Kräfte die bosnischen Serben zurück in den Osten Bosnien und Herzegowinas. Es kam zu Friedensgesprächen zwischen den drei Parteien, die nach 21 Tagen ununterbrochenen Verhandelns zum Vertrag von Dayton führten: Bosnien und Herzegowina bleibt in seinen Vorkriegsgrenzen bestehen, wird allerdings in zwei politische Entitäten aufgeteilt. Die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina.

Ein Schild zur Warnung vor Minen in den Wäldern Bosnien und Herzegowinas, die seit dem Krieg noch nicht geborgen wurden.

Auswirkungen bis heute

Der Bosnienkrieg zählte über 79.000 Todesopfer. 56 Prozent davon waren bosnische Muslim*innen. Zwei Prozent der Landesfläche sind bis heute vermint. Von allen Seiten, insbesondere von serbischen Militärs, wurden grausame Kriegsverbrechen begangen. Insgesamt flohen mehr als zwei Millionen Menschen vor dem Krieg. Bosnien und Herzegowina ist auch heute noch ein Vielvölkerstaat, in dem sich kaum jemensch als (nur) bosnisch, serbisch, kroatisch oder bosniakisch identifiziert. Das multiethnische Land wird von einem dünnen Faden, dem Dayton-Vertrag, zusammengehalten. Dieser Faden droht zu reißen. Die bosnischen Serb*innen, unter Führung des bosnisch-serbischen Politikers Milorad Dodik, wollen Unabhängigkeit. Teilweise verfolgen sie sogar wieder die Idee eines Groß-Serbiens. Die Bosniak*innen wollen mehr Macht für den Zentralstaat und versuchen ein geeintes Bosnien und Herzegowina aufrecht zu erhalten. Die bosnischen Kroat*innen möchten mehr Eigenständigkeit und fordern die Schaffung einer dritten Entität. Der Krieg in der Ukraine entschärft die Spannungen keineswegs. In der Republika Srpska werden Pro-Putin Demonstrationen abgehalten und die Zentralregierung Bosnien und Herzegowinas will der EU beitreten. Damals wie heute ist es kompliziert. Doch Wegsehen sollte keine Option sein, denn aus Fehlern der Vergangenheit kann gelernt werden.


[i] Anmerkung: Hier wird nicht gegendert, weil es sich nur um männliche Soldaten handelte.

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