Folge
Newsletter
Anmelden

Wie ein Kompromiss zum Krieg in der Ukraine beitrug

Ukrainische Flagge auf Fahnenmast über der Stadt Dnipro

Noch vor einer Woche war der Krieg auch für die meisten Ukrainer*innen weit weg. Zwar sorgten die russischen Truppenaufmärsche an der Ostgrenze des Landes bereits für Beunruhigung, aber die Regierung unter Präsident Selenskyj beschwichtigte: Man rechne nicht mit einer russischen Invasion. Heute mixen in der Ukraine Kindergartenbetreuer*innen Molotowcocktails. Wie konnte es nur so weit kommen? Zeit, sich die Hintergründe des zum Krieg gewordenen Konfliktes in der Ukraine genauer anzusehen.

Die NATO-Osterweiterung: Hat der Westen Russland betrogen?

Der russische Präsident Vladimir Putin hat stets betont, dass die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine für ihn eine rote Linie darstellt, egal wann ein solches Szenario tatsächlich eintreten könnte. Der Westen, bzw. die führenden NATO-Mitgliedsstaaten USA, Frankreich, Deutschland und Großbritannien sind bei ihrem Standpunkt geblieben, dass es grundsätzlich allen Staaten freistehen würde, sich um eine Mitgliedschaft zu bemühen. Von russischer Seite wird an dieser Stelle gerne ein mündliches Versprechen der Westmächte gegenüber dem letzten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, angeführt. Demnach solle die NATO nicht um osteuropäische Länder erweitert werden. Zwar existieren  Aufzeichnungen von Gesprächen, die belegen, dass dieses Versprechen Anfang der 1990er-Jahre Teil der diplomatischen Gespräche mit der zerfallenden Sowjetunion war – unter anderem der Spiegel berichtete. Ein völkerrechtlich bindender Vertrag, der die Erweiterung der NATO um Teile der historischen Sowjetunion verbieten würde, existiert jedoch nicht. Angesichts der großen Pläne für ein „gemeinsames europäisches Haus“, wie es Michail Gorbatschow, der letzte Präsident der Sowjetunion, ausdrückte, wurde auf solche Details offenbar vergessen. Zu stark war das gegenseitige Vertrauen in den guten Willen der Verhandlungspartner*innen und die Hoffnung auf einen nachhaltigen Frieden in Europa.

Leider kam es nicht zum erhofften großen Schulterschluss zwischen Ost und West nach dem Ende des Kalten Krieges. In den ersten Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion herrschte Chaos in Russland: Präsident Jelzin löste 1993 eine Verfassungskrise aus, die im Panzerbeschuss des Parlamentsgebäudes gipfelte. Wenig später unterstützte Russland Separatist*innen in der georgischen Region Abchasien und dem moldawischen Transnistrien – und kämpfte seinerseits gegen Separatist*innen in Tschetschenien im Rahmen des ersten und zweiten Tschetschenienkrieges.

Dass sich angesichts dieser von Russland verbreiteten Unruhe auch andere Nachbarstaaten um ihre Souveränität und territoriale Integrität sorgten, liegt auf der Hand. Es schien nur zwei Möglichkeiten zu geben: Auf Russland zuzugehen und sich zu arrangieren, oder sich im Westen Unterstützung zu suchen. Auf dem NATO-Gipfel in Madrid 1997 begann daher die erste NATO-Osterweiterung mit dem Start des Beitrittsprozesses von Polen, Tschechien und Ungarn.  Mit der Ukraine wurde ein Vertrag über militärische Kooperation unterzeichnet. Auch die Zusammenarbeit mit Russland wurde in dieser Zeit mit der Schaffung des NATO-Russland-Rates institutionalisiert. Russland lehnte die Erweiterungspläne bereits damals kategorisch ab und reagierte seinerseits mit einer Intensivierung der militärischen Kooperation mit den sogenannten GUS-Staaten, einem losen Zusammenschluss ehemaliger Teilstaaten der Sowjetunion. Der Anfang vom Ende des Traumes vom „gemeinsamen europäischen Haus“, den auch Vladimir Putin, Russlands zweiter Präsident, in einer Rede vor dem deutschen Bundestag Ende September 2001 zumindest oberflächlich noch verkörperte.

Polen, Tschechien und Ungarn traten schließlich 1999 der NATO bei. Bis 2004 bemühte sich außerdem die sogenannte Vilnus-Gruppe, bestehend aus Albanien, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Nordmazedonien, Rumänien, Slowakei und Slowenien, gemeinsam um den Beitritt. Russland reagierte darauf mit verhaltener Ablehnung, wohl wissend, dass man der NATO zu diesem Zeitpunkt wenig entgegenzusetzen hatte. Die Strategie der baltischen Staaten sei es laut dem estnischen Politikwissenschaftler Piret Ehin gewesen, so schnell wie möglich so vielen internationalen Organisationen wie möglich beizutreten, solange Russland noch schwach war. Diese Einschätzung aus dem Jahr 2013 verursacht angesichts der Ereignisse der letzten Tage – oder Jahre – Gänsehaut der unangenehmen Sorte.

In fünf Schritten kam es zwischen 1999 und 2020 zur Aufnahme von insgesamt 14 osteuropäischen Staaten in die NATO, die damit auf insgesamt 30 Staaten anwuchs.

Fatales NATO-Aufnahmeversprechen

Im Frühling 2008 hatten sich sowohl Georgien als auch die Ukraine um NATO-„Membership Action Plans“ (MAPs) bemüht. Bereits im Vorfeld des anstehenden NATO-Gipfels in Bukarest hatte sich der damalige US-Präsident George W. Bush für die Vergabe solcher MAPs und somit die Entwicklung eines konkreten Plans zur Aufnahme der beiden Staaten ausgesprochen. Vor allem Frankreich und Deutschland waren jedoch strikt dagegen, da man Russland nicht provozieren wollte. Das Ergebnis war schließlich eine Art „Österreichische Lösung“, eine Nicht-Entscheidung, die alle Beteiligten für den Moment zufriedenstellte, aber zu keiner nachhaltigen Lösung des Problems führte. Im Gegenteil.

Als Folge des Bukarester NATO-Gipfels verschlechterte sich die sicherheitspolitische Lage in Georgien. Im Sommer 2008 lieferten sich Separatist*innen in den Regionen Südossetien und Abchasien bewaffnete Auseinandersetzungen mit der georgischen Armee. Russland unterstützte diese Gruppen, auch mit Soldat*innen, und ließ seine Truppen bis kurz vor die Hauptstadt Tiflis marschieren, bevor die georgische Regierung dem Druck nachgab und sich aus den umkämpften Regionen zurückzog. Der militärische Konflikt endete mit einem Waffenstillstand, der völkerrechtliche Status der beiden umkämpften Regionen ist aber bis heute umstritten: Russland sieht sie als unabhängige Staaten, Georgien als Teil seines Territoriums. Somit hatte Russland entscheidend dazu beigetragen einen dauerhaften offenen Territorialkonflikt zu erzeugen, was als Ausschlusskriterium für einen NATO-Beitritt gilt.

In der Ukraine ging Russland ab 2014 ähnlich vor wie in Georgien. Man unterstützte separatistische Rebell*innen im Osten des Landes gegen das ukrainische Militär und annektierte de facto die Halbinsel Krim, auf der sich der Hafen der russischen Schwarzmeer-Flotte befindet. 2014 und 2015 beteiligte sich Russland zwar in der belarussischen Hauptstadt Minsk an langwierigen Verhandlungen für einen Waffenstillstand, brach diesen aber Tage später gemeinsam mit Separatist*innen aus den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk in der Ostukraine. Seitdem ist der Konflikt zwar aus den Medien weitgehend verschwunden, war aber bereits vor der Eskalation der letzten Wochen immer wieder aufgeflammt. Von Februar 2014 bis zum Beginn der russischen Invasion 2022 verursachte der Konflikt über 13.000 Todesopfer.

Indem die NATO Georgien und die Ukraine 2008 keine konkrete Beitrittsperspektive gab, konnte Russland unter Präsident Putin in beiden Staaten intervenieren, ohne einen unkontrollierbaren Krieg mit dem Militärbündnis und damit den Nuklearwaffenstaaten USA, Frankreich und Großbritannien zu riskieren. Indem die NATO Georgien und der Ukraine eine vage Beitrittsperspektive gab, lieferte sie Putin und Russland eine Rechtfertigung, die Ukraine anzugreifen.

Der Weg zur Eskalation im Februar 2022

Russland forderte Anfang des Jahres im Vorfeld eines Gipfeltreffens zwischen Vladimir Putin und US-Präsident Joe Biden „Sicherheitsgarantien“ von den USA. Unter anderem sollten sich die Vereinigten Staaten verpflichten, die Aufnahme weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken in die NATO zu verhindern. Außerdem wurde ein Stopp von Militäreinsätzen in solchen Staaten sowie die Absage an weitere Militärstützpunkte in den Nicht-NATO-Staaten Osteuropas verlangt. Russland betonte, dass vor allem eine Aufnahme der Ukraine in die NATO als „rote Linie“ angesehen würde.

Die USA antwortete auf diese Forderungen, dass man bezüglich der Begrenzung von Militärmanövern und der Stationierung von Waffensystemen gesprächsbereit sei. Grundlegende Prinzipien der europäischen Sicherheitsstruktur würde man aber nicht in Frage stellen, und alle Staaten hätten das Recht, ohne Einfluss von Drittstaaten über ihre Zukunft zu entscheiden. Wichtig ist hierbei zu betonen, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine bereits vor der russischen Invasion in weiter Ferne lag: Deutschland und Frankreich hatten ihre kritische Haltung auch nach dem Bukarester NATO-Gipfel von 2008 nicht aufgegeben, und analog zu Georgien steht der schwelende Konflikt um die Regionen Donezk und Luhansk einer Aufnahme im Weg – was Putin sicherlich bewusst war.

Noch vor zwei Wochen, am 14. Februar, hatte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vor seinem Antrittsbesuch bei Vladimir Putin über einen NATO-Beitritt der Ukraine gewitzelt. Er wüsste nicht, wie lange Putin vorhabe, im Amt zu bleiben, denn bis zu einem solchen Beitritt könne es noch länger dauern – „aber nicht ewig“. Diese Aussage zeigt anschaulich, wie falsch Teile des Westens im Vorfeld die Lage eingeschätzt hatten. Bereits Anfang des Monats hatten US-Geheimdienste von großen russischen Truppenaufmärschen an der ukrainischen Grenze und auf der durch Russland annektierten Halbinsel Krim berichtet und vor einem bevorstehenden Angriff gewarnt. Am 23. Februar hat dieser Angriff begonnen.

Was passiert jetzt?

Aufgrund der massiven militärischen Überlegenheit Russlands wird allgemein nicht erwartet, dass sich die Ukraine noch länger als einige Tage bis Wochen gegen die Invasion wehren kann. Unklar ist aber, was Russlands Endziel ist. Nachdem Putin die Invasion mit einem angeblichen „Genozid“ im Donbas, wo sich die abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk befinden, rechtfertigte, und die Kyiwer Regierung als „Nazis“ bezeichnet hatte, ist von einem „Regime Change“ auszugehen, also dem Einsetzen einer russlandtreuen Marionettenregierung. Ein solches Vorgehen wäre aber wohl nur mit einer dauerhaften massiven Militärpräsenz Russlands in der Ukraine möglich – ein extrem ressourcenintensives Unterfangen, das auch die Fortsetzung der Sanktionen des Westens auf unbestimmte Zeit bedeuten würde. Sanktionen, die Russlands Bevölkerung und WIrtschaft bereits jetzt zu spüren bekommen.

Nach Einschätzung des Russlandexperten Gerhard Mangott, Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Innsbruck, hat Putin mit der Invasion in die Ukraine neben dem unbestreitbaren moralischen auch einen schweren strategischen Fehler begangen. Es bleibt zu hoffen, dass ihm dieser Fehler nicht nur außenpolitische Ächtung, sondern auch ausreichend innenpolitischen Gegenwind bereiten wird. Viele Russ*innen haben Freund*innen und Verwandte in der Ukraine und sehen das Land als „Bruderstaat“. Nicht zuletzt deswegen bleibt zu hoffen, dass sich nicht alle von den absurden Rechtfertigungsversuchen Putins überzeugen lassen. Vielleicht ist diese Invasion Russlands in der Ukraine nach 21 Jahren der Anfang vom Ende des Putin-Regimes. Es wäre an der Zeit, denn: die NATO mag sich 2008 strategisch ungeschickt verhalten haben – die Verantwortung für die heutige Eskalation des Konfliktes kann sich Putin aber mit niemandem teilen.

Beitragsbild: Ukrainische Flagge über der Stadt Dnipro. Foto: Ukrainische Präsidialverwaltung.

Total
0
Shares
Vorheriger Artikel

Frauenquoten in der Politik: Längst überfällig oder überholt?

Nächster Artikel

Von Bewegungslosigkeit und dem Supermarkt

Verwandte Artikel