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Kaibutsu dareda? – Errätst du, wer das Monster (2023) ist?

Das Leinwandgeflüster der Woche dreht sich um das japanische Drama Kaibutsu (zu dt. Monster), das die Geschichte einer verzweifelten Mutter, eines gescheiterten Lehrers und zweier undurchschaubarer Fünftklässler in der japanischen Provinz meisterlich ineinander verwebt und sein Publikum einlädt, das Mysterium des Monsters in seiner Mitte zu lüften.

In Japan füllte das Drama von Japans Realfilm-Miyazaki Kore-eda Hirokazu (der:die Filmlieberhaber:in eines feineren Geschmacks mag ihn schon von seinem palm-prämierten westlichen Mainstreamdebüt Shoplifters (2018) kennen) bereits letzten Sommer die luftgekühlten Kinosäle, und nun ist der Film auch bei uns ab sofort im Leokino zu sehen.

Der erste Strang des Films widmet sich der alleinerziehenden Mutter Saori, die den nächtlichen Brand einer Hostess-Bar mit ihrem zehnjährigen Sohn Minato von ihrem Balkon aus verfolgt. Als Minato beginnt, sich in den Tagen darauf immer seltsamer zu verhalten, bohrt sie nach, bis er ihr einen Schuldigen nennt: Klassenlehrer Hori soll Minato im Klassenzimmer beleidigt und geschlagen haben. Doch im Lehrerzimmer stoßen die Beschwerden Saoris nur auf sinnbefreites japanisches Scheinheiligtum und taube Ohren, und so sieht sich Saori gezwungen, Anwalt und Presse einzuschalten, bis sie schließlich die Kündigung des vermeintlichen Schülerschänders Hori erreicht.

Daraufhin lässt der Film Saoris auserkorenes Monster Hori zu Wort kommen, der die Wahrheiten Saoris mit seiner unschuldigen Sichtweise zurückweist, erstere für ihre alleinerzieherische Überfürsorglichkeit verteufelt und in seiner neugefundenen Rolle als Erzähler zum Gegenangriff übergeht: Das Monster seiner Wahrheit ist ihr Sohn Minato selbst, der seinen träumerischen Mitschüler Yori drangsaliert, irrationale Gewaltausbrüche hat und sich zum Katzenkiller gemausert haben soll.

In dieser ersten Hälfte bewegt sich der Film zügig voran, springt über Löcher in seinen Erzählsträngen hinweg und versucht, sie mit unterschiedlichen Blickwinkeln und Nachbarschaftsgerüchten zu stopfen. Doch die Puzzleteile wollen nicht so recht zusammenpassen, denn hinter den Köpfen der Erwachsenen hat sich längst etwas komplett anderes abgespielt.

Es ist die sanfte Erzählweise des dritten Teils, in der Monster Schnitt für Schnitt die wahre Natur seiner Geschichte zeigt: Im Schutz der konstruierten Wahrheiten ihres Umfelds hat sich zwischen Minato und Yori eine innige Freundschaft entwickelt. Diese beruht auf einer tiefen Zuneigung füreinander, die sie selbst noch nicht in Worte fassen können und die sich gleichzeitig unmissverständlich an den gemeinsamen Radfahrten, den unzähligen Stunden in ihrem Versteck im entgleisten Eisenbahnwaggon, im Durchs-Haar-Streifen oder dem geteilten Paar Converse ablesen lässt.

Und doch wird ihnen vermittelt, dass in der kindlichen Unschuld ihrer Zärtlichkeiten ein Monster schlummert, das nicht der heteronormativen Gesellschaft entspricht, in der sich Minato und Yori wie echte Männer zu verhalten haben, eine glückliche Familie gründen und eine Frau heiraten werden; dass es dieses Monster in ihnen also in Brand zu setzen gilt. Als an einem feuchten Sommerabend ein gewaltiger Sturm am Horizont droht, beschließen die beiden Jungen, sich diesen Erwartungshaltungen der Erwachsenen, in die sie geworfen wurden, endlich in ihrer Entscheidung füreinander zu widersetzen.

Und so erkennen sie schließlich, dass auch im Monster ihrer Geschichte kein Funken Wahrheit mehr steckt, als sie am Morgen nach dem Gewitter, reingewaschen von ihrer vermeintlichen Schuld, aus ihrem Bunker klettern und in die all-erhellenden Sonnenstrahlen eintauchen, in deren Wärme jegliche Spuren des Monsters erlischen.

Monster ist eine wunderschöne Ode an die Leichtigkeit und Verwundbarkeit des Kind-Seins, des Bub-Seins, des Queer-Seins, ohne sich in deren Untiefen zu verlieren und der Geschichte eine Schwere zu verleihen, welche für die Gemüter der Kinder nicht stemmbar gewesen wäre. Regisseur Kore-eda gelingt eine zutiefst hoffnungsvolle Erzählung aus dem Leben zweier Jungen, die sich zum ersten Mal in ihrem queeren Selbst finden und eine einfache, und doch so schwerwiegende Entscheidung für das Leben treffen, das auf sie zukommt, mit all seinen Stürmen und Sonnenstunden.

Neben zahlreichen Preisen in Japan wurde Monster (2023) auch mit dem Preis für bestes Drehbuch und dem Queeren Filmpreis bei den Filmfestspielen in Cannes 2023 ausgezeichnet. Eine große Empfehlung.

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© Schreyer David @schreyerdavid_bild

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