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Die Sonnenkönigin

„La brûlure du soleil gagnait mes joues et j’ai senti des gouttes de sueur s’amasser dans mes sourcils. […] …et, comme alors, le front surtout me faisait mal et toutes ses veines battaient ensemble sous la peau.“
„Die brennende Sonne erreichte meine Wangen und ich spürte, wie sich Schweißtropfen in meinen Augenbrauen sammelten. […] …und, wie damals, tat mir die Stirn besonders weh und all ihre Adern pulsierten zusammen unter der Haut.“

„La brûlure du soleil“, der wortwörtliche Brand der Sonne, treibt den Protagonisten in Albert Camus‘ L’étranger (dt. der Fremde) zu Wahnsinn, Mord und Selbstzerstörung. Er beschreibt, wie sich die absolute Macht der Sonne den Menschen untertan macht und alles in ihm durchdringt. Auch ich bin ein Sklave der Sonne, ein treuer Diener ihres grellen Lichts.

Die Sonne erscheint friedlich im Westen, zart strahlt sie über die Insel.
Der kühle Wind hat ihre göttliche Autorität untergraben und lädt zum Verweilen auf den kahlen Steinfelsen ein. Ich ziehe zwei Zimtschnecken aus meiner Tasche und stecke meine Kopfhörer ins Ohr. Tip, tip, tip on hardwood floors / ten, ten, ten across the board. Beyoncé jagt den Beat und wird mit jeder Strophe schneller, rücksichtsloser, egoistischer,
wie die Sonne auf ihrem Weg zum Zenit.

Am Meer steht die Sonne bereits im Zenit.
Wir wandern die breite Straße entlang, die Stadt und Strand voneinander trennt. Die Sonne brennt auf dem Beton, betäubt unsere Sinne.
Am Strand des Propheten werfen wir unsere Handtücher in den Sand und tauchen ins Wasser ein. Er hält meinen Kopf einmal, zweimal, dreimal in die salzige hellblaue Leere, ich ziehe seinen mit mir. Unterwasser tut uns die Sonne weniger weh.
Auf den Steinen bieten wir ihr unsere halbnackten Körper dar, sind ihrer Gnade komplett ausgeliefert. Ihr hungriger Blick fixiert mich von oben, sein hungriger Blick hier unten.
Sie küren mich zum Objekt ihrer undurchdachten Begierde.
Zumindest für diesen Nachmittag, in diesen Stunden unter der brennenden Sonne.

Mein Kopf brennt noch immer, Schweiß klebt an mir.
Ich kann nicht vor, nicht zurück. Sie nimmt bereits ab, dachte ich mir, und habe mich auf ihre Herausforderung eingelassen. Mich in die Menge gestürzt. Nun bin ich gefangen zwischen Fremden, ohne Wasser, ohne ihn, beides habe ich irgendwann verloren. Wir stehen, drücken, wollen vorwärts, doch die Zäune bewegen sich nicht. Menschen legen sich nieder, ihnen wird schwarz vor Augen. Die Sonnenkönigin kennt kein Erbarmen, sie zwingt mich zum Durchharren, also gehorche ich.
I remember when your head caught flame, wird sie vier Stunden später singen.

Auf dem Dach sind wir ihr näher.
Orangina in meiner, Filmkamera in seiner Hand. Das erhitzte Metall brennt sich in unsere Haut ein, wir schützen unsere Köpfe mit unseren Büchern. Ihre besten Stunden sind bereits vorüber, wir schätzen uns glücklich, ihre letzten Strahlen erwischt zu haben. Wir kosten sie aus bis zum Schluss, nehmen so viel von ihr auf, wie sie es uns erlaubt. Auch nachdem sie vollends hinter der Kathedrale auf dem Hügel verschwunden ist, bleiben wir in ihrem Glanz liegen.
Schmecken die Spuren, die sie auf unseren Körpern hinterlassen hat.

Die Sonne ließ sich dieses Wochenende wieder blicken.
Noch ist sie zahm, geschwächt von den erstickenden Wolken des Winters. Doch an jeder erblühten Knospe, jeder eröffneten Eisdiele und jeder erhellten Abendstunde lässt sich erkennen, wie schnell sie unseren Alltag zurückerobert, an Macht gewinnt.
Ich stehe bereit im schönsten Gewand, Blumenkrone im Haar, wartend, dass sie die Kerze in meiner Hand anzündet.

Verkündet die Botschaft, läutet die Glocken: die Zeit des Sommers beginnt und mit ihr die stechende, gnadenlose und wunderschöne Herrschaft der Sonne.

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