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Schraffierte Realität – Eine Kurzgeschichte

„Aber wir müssen irgendetwas unternehmen. Wie soll es so weitergehen, sie ist eine Gefahr für uns alle!“
„Ja, da stimme ich dir zu.“
Die Halle ist erfüllt von dröhnenden Stimmen und ungehaltenem Geschrei.
„Ihre Unwissenheit wird uns noch alle umbringen.“   

„Nein!“ will sie schreien. Sie steht in der Mitte des Saales, unbeholfen und verloren, aber aus ihrer Kehle kommt nur ein heiseres Flüstern. Die Bänke sind zum Bersten gefüllt, Schulter an Schulter reihen sich Gestalten, die mit wilden Blicken ihre Fäuste gegen sie erheben. Ihr Ankläger läuft mit langsamen Schritten und verschränkten Händen auf dem Rücken langsam auf sie zu.

In ihrem Inneren hallen noch die Worte wider „Die Klage lautet: Hexe. Es wird vermutet, dass sie uns zudem mit ihrer fehlenden Kenntnis schon bald mit in den Untergang ziehen wird.“

Vor Stunden hatten sie sie an den Haaren hinter sich her geschliffen, bis sie im Gerichtssaal angekommen waren.
Die Stimme des Richters verstummt ganz langsam im Hintergrund. Eingebungen verschwimmen, keine Richtung mehr, in die sie gehen kann. Der Sturm zieht auf und nimmt alles mit sich, woran sie jemals dachte zu glauben. Die Decke über ihr ist zu einem gläsernen Kuppeldach gewölbt, hilfesuchend wandert ihr Blick zum Himmel und bleibt an den grauen Wolken hängen.

Es hilft nichts mehr, sie ringt nach Luft, sie fühlt, wie die Hitze in ihr hochsteigt. Diese tiefe Last liegt auf ihren Schultern, ihr Schatten bewegt sich hin und her, sie löst sich auf in ihre Einzelteile, hört nicht mehr die Worte, die sonst in ihrem Herzen widerhallten, steht kurz still und ihr scheint, als ob die Umrisse ihres Skeletts über die nackte Wand tanzen würden.

Sie machte den Schritt zur Ausbildung, meldete sich an, keiner dachte, sie würde es schaffen. Doch sie bezwang den Weg bis zu diesem Tag. In diesem Moment ist es, als ob sie nach Minuten unter Wasser die Eisschicht auf einem See durchbrechen würde, das berstende Geräusch fast so präsent wie der jetzige Moment, der unvermittelt auf sie einschlägt. Sie wird nicht ohne Kampf untergehen.

Fauchend wirft sie ihm Entgegnungen an den Kopf.
Überrascht hebt er den Blick und fixiert sie mit seinen leeren Augen, die fast schwarz erscheinen.
“Ruhig bleiben”, sagt er bedrohlich und sie muss sich zusammenreißen, nicht auf ihn loszugehen
– Er, der einzige Grund, weswegen ihr Leben am seidenen Faden hängt. Er lässt Seelen in seinen Händen verstummen, er wirft dem Volk sein spielendes Lächeln zu, welches sich aufgefangen von naiven Gemütern entfaltet, und sie könnte kotzen.

„Ich habe Jahre in dieses Fach investiert.“
„Das reicht uns nicht. Du hast es nicht ernst genug genommen.“
Sie funkelt ihn an.

Die Wut vibriert unvermittelt in ihren Adern. Pulsierende Energie, die sich in ihrem Bauch freimacht und die Vasen beginnen in den Regalen zu zittern.

Lang genug steht sie jetzt dort, hört ihnen teilnahmslos zu und es schüttelt sie. Brutalität in deren Gedanken und der Versuch, heroische Taten walten zu lassen. Sie hasst alles an ihnen, dieses zerstörende, berstende Gefühl sitzt so tief, sie ist der Beton, die Mauern um sie herum und plötzlich verstummt die Menschenmasse nach einem lauten Knall. Überrascht wandern suchende Blicke nach oben zum Dach, wo jetzt ein Loch prangt. Nacheinander beginnen mehr Steine zu Boden zu sinken, fast wie in Zeitlupe löst sich das Gebäude über der zitternden Erde auf. Panisch springen die zuvor noch so Erzürnten auf und versuchen sich hastig zum Ausgang zu schieben. Doch an diesem Tag soll die Gerechtigkeit siegen.

Schweißgebadet erwacht sie und blinzelt in den leeren Raum. Ihr Zimmer liegt vor ihr in der Dunkelheit, neben sich an der Wand ihr Kalender, auf dem der heutige Tag rot eingekreist ist. „Abschlussprüfung“ steht dort. Sie atmet tief ein und aus. Neben ihrem Bett läuft noch der offene Netflix-Tab, auf dem gerade in einer Mittelalter Doku eine Hexe verbrannt wird. Mit Schwung wirft sie den Laptop zu, reibt sich die Augen und dreht sich um. Immer diese Prüfungsphasen.

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