Folge
Newsletter
Anmelden

Was sich im Leben kumuliert – Dschinns

In den letzten drei Tagen begleitete mich eine Familie durch mein Leben, durch meinen Alltag, bereicherte mich mit neuen Erkenntnissen und ließ mir Tränen in die Augen steigen. Emine, Hüseyin, Ümit, Peri, Sevda und Hakan wurden Teil meiner Gedankenwelt und werden mich wohl so schnell nicht mehr loslassen. Begegnet bin ich ihnen im Buch Dschinns von Fatma Aydemir, das 2022 vom Hanser Verlag veröffentlicht wurde.

Fatma Aydemir, geboren 1987 lebt in Berlin und arbeitet als Kolumnistin und Redakteurin bei der taz. Sie studierte Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. 2017 erhielt sie mit Ellbogen einen Preis für den besten Debütroman des Jahres.

Die Autorin kenne ich durch die Anthologie Eure Heimat ist unser Albtraum – eine Sammlung von 14 Essays verschiedener Autor*innen zu den Themen Rassismus, Heimat, Identität, Nationalität und Migration. Empfohlen wurde mir dieses hier – Dschinns – von einer Freundin. Es ist kein einfaches Buch, obwohl es sich gut lesen lässt, ohne viel blabla, eher mit viel Inhalt, viel Schicksal (auch wenn man dieses Wort Emine zufolge nicht zu oft gebrauchen soll), voller Traurigkeit und unausgesprochener Wut und gleichzeitig voller Liebe. Selten habe ich etwas gelesen, das so ehrlich ist und so nah am Menschen, selten hat mich etwas so gefesselt, wie Dschinns.

Hüseyin verstirbt in Istanbul. Seine Familie, verstreut, teilweise zerstritten, reist von Deutschland aus zur Beerdigung an, alle mit unterschiedlichen Geschichten, Ängsten und Geheimnissen. Viele davon lösen sich an dem Ort, an dem Hüseyin, der Vater, der ständig müde „Gastarbeiter“ stirbt. Aus der Sicht von allen fünf Mitgliedern, angefangen beim Vater Hüseyin über die Kinder Ümit, Peri, Sevda und Hakan bis hin zur Mutter Emine erfährt man Dinge aus ihrem Leben, die betroffen und glücklich zugleich machen können.

Hüseyin, „[d]u hattest dir ein neues Leben erhofft. Was du bekamst, war Einsamkeit, die nie ein neues Leben sein kann, denn Einsamkeit ist eine Schleife, ist die ständige Wiederholung derselben Erinnerungen im Kopf, ist die Suche nach immer neuen Wunden in längst entschwundenen Ichs, ist die Sehnsucht nach Menschen, die man zurückgelassen hat.“ (S. 15)

Ümit, der jüngste der Geschwister, der sich wünscht, „dass die Welt ihm eine Pause gönnt, nur kurz […].“ (S. 28)

Sevda, die voller Angst ihrer Tochter befiehlt: „Sprich nicht wie ein Ausländer!“ (S. 66)

Hakan, der eine Graffitisprayaktion für immer bereuen wird, der manchmal auch andere illegale Dinge macht und der ein liebevoller, herzlicher Freund, Sohn, Bruder und Onkel ist.

Peri, die nicht aufgibt, ihrer Mutter von Beauvoir und Butler zu erzählen, die schon so viele Menschen in ihrem Leben verloren hat, die man so liebgewinnt, mit jeder gelesenen Seite.

Und zum Schluss Emine, der man „erst [die] Muttersprache genommen [hatte] und [die] dann in ein Land gebracht [wurde], in dem [sie] gar keine Sprache mehr hatte […].“ (S. 237)

Auf ehrliche und nicht romantisierende Art erfährt man, wie es Menschen, Pionier*innen (als neuer Begriff für Gastarbeiter*innen) der ersten und zweiten und teils auch dritten Generation geht, welchen Herausforderungen sie sich stellen müssen und womit sie konfrontiert sind. Die Familie ist geprägt von einem Schweigen, der Depression der Mutter, die keine*r so richtig verstehen kann, von der Abwesenheit des Vaters und den Eigenheiten der Kinder. Es wird, bis zum Tod des Vaters über alles geschwiegen, wodurch sich so viel Schmerz und Trauer anstaut, die von Generation zu Generation weitergetragen werden. Dennoch ist das Buch nicht traurig, es ist zutiefst menschlich und fesselt mit seinen tiefen Emotionen. Immer wenn ich das Gefühl hatte, müde vom Lesen zu werden und etwas anderes tun wollte, passierte in genau diesen Zeilen etwas Bewegendes, das mich weiter am Ball hielt. Ich konnte wirklich lange am Stück lesen, was mir besonders durch das viele Lesen in der Uni eigentlich in letzter Zeit sehr schwerfällt.

Das Buch beinhaltet so viele Themen, dass sie sich kaum alle aufzählen lassen. Es geht neben der Trauer und den Familienproblemen um queere Themen, um Tablettenmissbrauch, um Schwangerschaften, um Zwangsehen, ums nicht-geliebt-Werden, ums nicht-lieben-Können, es geht um Polizeirepression, um Rassismus und um Identitätsfragen. Es geht darum, dass Heimat nicht ein Ort ist, sondern dass es Menschen sind, durch die sich Orte wie zu Hause anfühlen. Es geht aber auch darum, dass Orte an ein zu Hause erinnern können, dass Orte Menschen erst zusammenführen können, dass erst durch Orte die Möglichkeit eines zu Hauses besteht. An diesen Orten wird Verschwiegenes gesagt, wird geweint, gestritten. Ob Heilung passiert, kann man nicht sagen, es wird einfach nur gelebt.

Der Ort in dem Buch ist eine kleine, helle Wohnung in Istanbul, die Hüseyin sich für seine Familie erarbeitet hat. dort beginnt alles, dort endet alles. Was ist dein Ort?

Dschinns – Fatma Aydemir

Empfohlen für Leser*innen zwischen 20 und 40 Jahren, Menschen, die sich für Themen rund um Migration, Generationen aus postmigrantischer Perspektive, Identität, Familie interessieren.

Beitragsbild: Hanser Verlag

Total
0
Shares
Vorheriger Artikel

Journalismus im Krisenmodus oder Krise im Journalismus

Nächster Artikel

Die Sprache als Teppich vor uns ausgebreitet – „Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen“

Verwandte Artikel