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Samstagseindrücke aus dem Extrem

Samstagmorgen liege ich noch im Bett und plane meinen Tag, neben mir ein blaues, fast 60 Seiten dickes Programmheft – Journalismusfest Innsbruck. Ich freue mich auf einen Tag voller Vorträgen, Diskussionen und spannenden Beiträgen, bin aufgeregt Menschen zu treffen, die Extremsituationen erleben, um (tagtäglich) Wissen für die Gesellschaft aufzubereiten.

Erster Stopp, 10:30 Uhr: Treibhaus

Ich bin zu früh da, trotzdem warten schon zirka 100 Menschen vor dem Treibhaus und als die Absperrung zum Eingang wird, ströme ich gemeinsam mit ihnen in den Turm. Auf einer Leinwand ist ein Mann mit Brille zu sehen, der uns als Robert Tibbo vorgestellt wird – Menschenrechtsanwalt und Vertreter von Edward Snowden und seinen Unterstützer*innen in Hong Kong. Kurzer Kontext: Sechs dieser sieben Menschen, die Snowden in Asien versteckt hatten (genannt Snowden Refugees) und ihm dort Unterschlupf boten, konnten jetzt nach Kanada ausreisen und bekamen dort Asyl. Eine Person, Ajith Pushpakumara, ist immer noch in Hong Kong. Tibbo spricht über die psychische Belastung dieses Mannes, ausgelöst durch die Repression der Regierung, durch ständige Flucht und keine Möglichkeit der Zukunftsplanung. Er kritisiert scharf, dass die Medien nicht über diesen Mann berichten. Dabei wäre es so wichtig, dass Menschen über Schicksale wie seines Bescheid wüssten. Die mediale Aufmerksamkeit würde hauptsächlich auf Frauen und Kinder gelenkt werden. Wer zurückbleibt, wird vergessen und verschwindet nicht nur von der Bildfläche, sondern im schlimmsten Fall auch im realen Leben. Ajith darf in Hong Kong nichts machen, er wird bedroht und überwacht. Der Anwalt spricht aber auch von Nächstenliebe, von Zusammenhalt und von Aufopferung, wenn er erzählt, wer Snowden gerettet und geschützt hat. Häufig geht ein Raunen durch den Raum, die Menschen werden emotional, wütend. Am Ende wird geklatscht und zum Spenden aufgerufen und ich frage mich, was ich alles nicht weiß.

Zweiter Stopp, 12:30 Uhr: Mimimi die Männer

Ich sitze wieder im Treibhaus im Turm, auf der Bühne drei Frauen, Parwana Rahmani, afghanische Journalistin, Monika Hauser, Frauenrechtsvertreterin aus der Schweiz und die Moderatorin Petra Ramsauer. Aus den USA ist die afghanische Journalistin Farahnaz Forotan auf der Leinwand zugeschaltet. Sie üben Medienkritik, mit Aussagen wie „die globalisierte Welt schaut spotlightartig auf Gesellschaft“, Afghanistan werde medial vernachlässigt. Eine Schlussfolgerung schockiert mich: Menschen in Afghanistan kämpfen immer noch gegen Repression, wenn weltweite Aufmerksamkeit aber verloren geht, werden sie mit ihrem Kampf aufhören. Die Frauen verknüpfen internationale Konflikte mit toxischer Männlichkeit und sprechen über sexualisierte Gewalt im Krieg. Am Thema Gewalt gegen Frauen in Afghanistan bleiben wir hängen. „Basic rights are being abolished“, Frauen dürfen nicht mehr arbeiten, werden reduziert auf Kindermaschinen, müssen Burka tragen und werden in allen Rechten beschränkt. Sie sprechen über die Situation in Afghanistan, Menschen sind pessimistisch. Es gab viele Evakuierungen, es sei schwierig, Perspektiven zu entwickeln und Personen sind traumatisiert von den andauernden Eskalationen. Auch wenn die Verbindung in die USA manchmal abbricht und die tolle Simultanübersetzung etwas die Geschwindigkeit aus den Gesprächen nimmt, werde ich in einen Bann gezogen. Daran kann auch die Aussage eines Mannes im Publikum: „Ihr Frauen versteht uns Männer nicht, Männer werden aus diesem Gespräch um nichts bereichert hinausgehen“, nichts ändern.

Dritter Stopp, 15:30 Uhr: Von Ibiza bis zum Dickpic

Im Haus der Musik ist die Tonqualität gut, der Saal ist fast voll, es ist angenehm kühl. Auf der Bühne sitzen Frederik Obermaier und Bastian Obermayer, zwei Investigativ-Journalisten, die unter anderem an der Enthüllung des Ibiza-Skandals beteiligt waren, und die Chefreporterin vom Falter, Nina Horaczek. Begonnen wird mit einer Diskussion über eine mögliche Revolution vom Journalismus durch den investigativen Journalismus. Dann sprechen sie über Schwierigkeiten, denen sie in ihrem Beruf begegnen, von Schneeballsystemen, Networking und Connections – Worte und Themen, die sich für mich bizarr und surreal anfühlen. Ein bisschen fühlt es sich an, als würden sie von einem Verschwörungsfilm sprechen, wenn sie betonen, wie wichtig Diskretion und Vertrauen ist. Sie sprechen aber auch an, wie schwer es in der redaktionellen Tätigkeit oft ist, investigative Recherchen zu betreiben. Sie betonen, wie groß die Angst vor Falschinformationen ist und wie viele unangenehme Bilder im Postfach landen, sprechen aber mit viel Witz und auch Freude von ihrer Arbeit und von ihrem Zusammenhalt. Im Saal wird gelacht, die Menschen um mich herum fühlen sich wohl.

Letzter Stopp: 20:00 Uhr: Amerikanische Kühlschränke

Für die Diskussion mit Karim El-Gawhary dem Nahost-Experten des ORF, sind die Tickets im ORF-Landesstudio alle vergeben, Menschen ohne Reservierung bekommen keinen Platz mehr. Die Diskussion ist super organisiert, über Fernseher werden Clips aus der Arbeit von El-Gawhary eingespielt. Er spricht mit ruhiger Stimme, erzählt Anekdoten aus seiner Arbeit, wie er von Menschen, so groß wie „amerikanische Kühlschränke“, festgenommen wurde. „Ich bin eine wandelnde Identitätskrise“, erzählt er, fast im gleichen Atemzug, wie er von der Ermordung einer Kollegin berichtet. Ehrlich spricht er von Ängsten und Schwierigkeiten von Sprachlosigkeit und Ohnmacht. Auch er hinterfragt die Formen der Berichterstattung und sieht im Zuge des Ukraine-Kriegs eine menschlichere Herangehensweise von Journalist*innen. Ich frage mich, wie es ihm geht, woran er denkt, ob er Angst hat, wie sein Alltag ist. Mich wundert, dass er mit so viel Komik über seine teilweise wirklich sehr gefährlichen Erlebnisse spricht. Am Ende fordert er eine Änderung der Politik, eine Hinschauen der Medien, ein Stopp der Waffenlieferungen. Was er in Zukunft machen will, weiß er nicht – vielleicht ein Kinderbuch schreiben, um jungen Menschen Privilegien klar zu machen.

Mit folgenden Worten von Karim El-Gawhary gehe ich heute ins Bett, der Tag war anstrengend, lang, voller Eindrücke: „Wir sollten uns über die Gnade unseres Geburtsortes bewusst sein, wir haben nichts gemacht, außer bei der Geburt einen Sechser im Lotto gezogen.“ Ich werde noch lang an die Geschichten heute denken.


Vom Do, 12.05.22 bis zum So, 15.05.22 fand in Innsbruck das Journalismusfest statt. Auf vielen verschiedenen Veranstaltungen wurde zu komplexen und aufschlussreichen Themen diskutiert und informiert. Die Zeitlos lässt diese facettenreichen Tage Revue passieren.

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