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DIAMETRALE, Schnecken und Schleim

Zuschauer 1 sagt: „Bis zu dem Punkt, an dem so viel Blut war, war es gut.“ Jemand meint: „Tradition is just peer pressure from old people.” Woher kommt die menschliche Faszination für Mord? Ein anderer sagt: “Ich bin der Körper des Mannes, weil ich bin billig.“ Sie sagt: „Ich wollte bei einer Orgie dabei sein.“ Zu hören ist: „Queer, aber mansplainer.“ Und zuletzt starb nur eine Ameise und die Schnecken hießen Speedy und Gonzales. Und eigentlich geht es um einen Tinnitus und Geschlechteridentitäten.

Was sich anhört wie Wahnvorstellungen oder inneres Chaos, ist Realität. Realität der DIAMETRALE. „Filmfestival für Experimentelles und Komisches“, ist auf dem Programmheft zu lesen. Die DIAMETRALE fand nun schon zum sechsten Mal unter dem Motto „nutzlos und schön“ in Innsbruck im Leokino und dem p.m.k vom 30.03.2022 bis zum 03.04.2022 statt. Und auch ich durfte am 31.01. bei den Filmen FUDLIAKS! Zerfetzt die Geschlechter! und Masking Treshold dabei sein.

Der Kinosaal ist fast leer, als ich ihn um kurz vor neun Uhr abends mit einem Freund, den ich lange nicht gesehen habe und der hier Zuschauer 1 genannt wird, betrete. Außer uns sind noch zwei andere Menschen da. Eine Person trinkt Aperol mit einem Papierstrohhalm, die andere Bier. An den Film, wie ich zu diesem Zeitpunkt noch denke, habe ich keine Erwartungen. Ich habe mir einen Trailer angesehen, nicht ganz einordnen können, worum es geht, und sitze jetzt dennoch hier, weil mich anscheinend irgendetwas gepackt hat. Dass zwei Filme hintereinander gezeigt werden, wusste ich in dem Moment noch nicht, weil ich mich, wie es scheint, nicht ausreichend informiert habe. Während des Vorspanns füllt sich der Raum, danach treten zwei Menschen vor die Leinwand, die sich als Regisseur*innen vorstellen: Jasmin Hagendorfer von FUDLIAKS! Zerfetzt die Geschlechter! und Johannes Grenzfurthner von Masking Treshold. Zuschauer 1 stellt auch verwundert fest: „Zwei Filme?”

FUDLIAKS zerfetzt Vorstellungen

Das Licht geht aus, Film ab, ein zwölf-minütiges Spektakel beginnt:

Eine Person betritt das Institut für Geschlechternormierung, wird dort als „hetero-cis“ kategorisiert. Menschen im Institut berühren gerade grünen Schleim, Statements der Forscher*innen sind klar queer-feindlich. Plötzlich bricht Panik aus, die untersuchte Heteronorm stellt sich als (doch) nicht ganz so normgebend heraus. Der Ort, das Forschungsinstitut, bleibt derselbe, die Musik ändert sich, das Licht verändert sich aber vor allem die Menschen ändern sich. Sie räkeln sich nackt am Boden, verteilen gelartige Flüssigkeit mit Dildos auf ihren Körpern. Sie glitzern, sind bemalt, tragen stoffarme Kleidung. Die Menschen im Publikum sind überrascht und vielleicht trägt der Film, so sagt es nämlich Jasmin Hagendorfer zu Beginn, auch zur „Verwirrung von Geschlechtsidentität“ bei. Zuschauer 1 sagt: „Bei der Musik bekomme ich Lust auf Ausgehen.“ Mir geht es ähnlich. Ich kann aber nicht einschätzen, ob es an der Musik liegt oder daran, dass sich Ausgehen wie die Normalität anfühlt, die gerade auf den Kopf gestellt wurde. Weil Trinken und Party mich aus der Unbehaglichkeit, die der Kurzfilm auslöst, befreien würden. Nach der Vorstellung rede ich mit Zuschauer 1: Ist die Gesellschaft, bin ich, noch zu verklemmt, um Filmen wie diesem ohne Unbehagen entgegen treten zu können? Bei mir trägt der Film auf jeden Fall dazu bei, genau darüber nachzudenken und hat dadurch vielleicht schon das erreicht, was er wollte.

Masking Entsetzten

Nahtlos geht es in den zweiten Film über. Nach der Eskalation von vorhin wirkt dieser Film ruhig, fast langsam. Ein Mann installiert ein Mikrophon und eine Filmeinrichtung über seinem Schreibtisch, um seinen Forschungsprozess aufzuzeichnen. Er hat (nämlich) einen Tinnitus und Ärzt*innen können ihm nicht helfen, raten ihm (stattdessen) zur Therapie. Er will so selbst herausfinden, was seinen Tinnitus auslöst und ist überzeugt, dass verschiedene Materie unterschiedlich darauf wirkt. Seine Forschung hält er in einem Audio-Video-Tagebuch fest und Zuseher*innen bekommen in extremer Vergrößerung, fast wie durch ein Mikroskop, Einblicke in seine Versuche. Obsessiv betrachtet er Stoffe, Schimmel, Pilze, Flechten, Haare und Sperma. Wie im Wahn schreibt der im Film gesichtslose Mann seine Ergebnisse nieder, steigert sich immer mehr in seine Untersuchungen hinein. Er findet heraus, dass der Tod seinen Tinnitus verändert und tötet eine Ameise, Zuseher*innen sehen genau in vielfacher Vergrößerung wie sie zerdrückt wird. Dann betrachtet er Nacktschnecken, bestreut sie mit Salz. Beschäftigt sich mit Regenwürmern. Köpft eine tote Maus, bricht einem Vogel das Genick. Immer besessener vom Tod, immer fanatischer und obsessiver kommt er in seinem kleinen Labor zu für ihn logischen Schlussfolgerungen. Ungefähr in der Hälfte sagt Zuschauer 1: „Bestimmt stirbt jemand.“ Ich glaube das nicht, hoffe auf eine Liebesgeschichte. Am Ende aber doch: menschliche Körperteile und viel Blut. Johannes Grenzfurthner erzeugt in Masking Treshold vor allem Unbehagen und Ekel in mir. Dass er am Ende betont, während dem Dreh sei ausschließlich eine, anscheinend sündhaft teure Ameise getötet worden, macht es kaum besser.

Auch wenn der Film noch ohne Gedanken an irgendwelche Pandemien entstanden ist, löst er in mir Assoziationen zum Lockdown aus. Ich fühle mich beengt. Der Protagonist befindet sich in Isolation. Räumlich, weil er sich nicht aus der Wohnung bewegt, physisch, weil sein Tinnitus ihn einnimmt. Psychisch, weil er so verbissen und ohne Ausweg in seinem Kopf gefangen ist. Er reitet sich selbst immer mehr in einen Wahnzustand hinein, in den er wie in einen Strudel gerät. Die Kameraperspektive, die Geräusche und vielleicht auch meine Erfahrungen vom Eingesperrt-Sein in Quarantäne und Lockdown geben mir ein Gefühl von Nähe zum Protagonisten, ohne sein Gesicht jemals gesehen zu haben. Oder vielleicht gerade deshalb, weil das mehr Raum zur Identifizierung gibt.  Auch ich werde in den Film gesogen, wie der Mann es in seinen Wahn wird – irgendwie ist es lustig, die Lacher aus dem Publikum bestätigen das. Warum genau, kann ich nicht sagen, vielleicht ist das Verlachen eine Form des Umgangs mit der Unbehaglichkeit, mit dem Komischen. Als der Film mit einem Schuss endet, fühlt es sich an, als würde der Saal aufatmen, so subtil werden Themen angeschnitten, die die Zuschauer*innen im Innern treffen.

Vor dem Saal treffe ich noch zwei Freunde, sie sind ähnlich sprachlos wie ich. Beim Sprechen über die Filme können wir lachen und das Bedrückende loslassen und es ist schön darüber zu reden. Alles in allem: Meine Vorstellungen sind klar übertroffen worden, wenn auch auf andere Weise, als ich erwartet hätte.


Über die DIAMETRALE:

Das Programmheft fasst in meinen Augen perfekt zusammen, was die DIAMETRALE ist: „Ein Filmfestival für all jene, die sich gern überraschen lassen und mit uns das Absurde feiern […]“. Ein Filmfestival für all jene, die bereit sind, sich auf Fremdes einzulassen und sich darüber zu freuen.

Bilder: Jasmin Bauer

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