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Unglaublich, aber wahr und ziemlich genial – Buchrezension „Fast genial“

Photo by Karl Fredrickson via Unsplash

In Fast genial erzählt Benedict Wells die wahre Geschichte des mittellosen Teenagers Francis aus einem Trailerpark, dessen Leben sich um 180 Grad dreht, als er erfährt, dass sein ihm unbekannter Vater ein Genie sei. Gemeinsam mit seinen Freunden macht er sich auf den Weg quer durch die USA, um ihn zu finden – und stellt sich die Frage, wovon seine Identität wirklich bestimmt wird.

“Du warst ein Retortenbaby, Francis. Aber kein normales, falls es dich tröstet. Du hast besondere Gene.”

Siebzehn Jahre lang hat Francis geglaubt, er sei das Ergebnis einer der vielen Liebesbeziehungen seiner Mutter Katherine. Bis zu dem Tag, an dem sie ihm in einem Brief die Wahrheit über seine Herkunft und damit auch seinen Vater erzählt.

Die Suche nach einem Vater – und sich selbst

Eigentlich hatte Francis eine schöne Kindheit. Seine Mutter, er und sein Stiefvater Ryan lebten gemeinsam in einem Haus in Jersey City. Francis freundete sich mit dem Nachbarsjungen Grover an und besuchte mit ihm die örtliche Schule. Ryan bemühte sich stets, Francis ein guter und liebevoller Vater zu sein, doch als er und Katherine den gemeinsamen Sohn Nicky bekamen, änderte sich ihr Verhältnis. Francis war nun mal nicht sein leiblicher Sohn. Es kam zur Scheidung und während Ryan mit Nicky nach New York zog, verfiel Katherine immer mehr in Depressionen, verlor ihren Job und auch ihr Zuhause, bis sie und Francis schließlich im Trailerpark in Claymont landeten. Es folgten Psychiatrieaufenthalte, wechselnde Liebesbeziehungen seiner Mutter und je mehr Jahre vergingen, umso mehr riss auch der Kontakt zwischen Ryan und Francis ab. Auch seinen geliebten Halbbruder sieht Francis jetzt nur noch selten. Nur Grover steht ihm nach wie vor bei und Francis, inzwischen ein wettkampferprobter Ringer, verteidigt seinen nerdigen besten Freund mit den verrückt bedruckten T-Shirts stets vor den mobbenden Mitschüler*innen.

Als Katherine wegen eines erneuten psychischen Zusammenbruchs in die Klinik eingewiesen wird, lernt Francis dort Anne-May kennen, die wegen eines gescheiterten Selbstmordversuchs auf derselben Station liegt, wie seine Mutter. Francis ist sofort verliebt und besucht Anne-May von nun an regelmäßig. Sie ist zunächst abweisend, öffnet sich schließlich aber doch und die beiden kommen sich näher. Alles scheint bergauf zu gehen, bis Katherine versucht, sich das Leben zu nehmen. Ihr Abschiedsbrief weckt in Francis das Verlangen, seinen Vater zu finden und kennenzulernen – vor allem, weil er ein absolutes Genie sein soll. Hochbegabt, sportlich, beruflich erfolgreich. Gemeinsam mit Grover und Anne-May macht er sich in Grovers altem Chevy auf den Roadtrip seines Lebens. Von Claymont geht quer durch die USA es in den Westen, über ein schicksalhaftes Casino in Las Vegas, den Ursprung seines Lebens in Los Angeles bis nach Tijuana in Mexico. Doch ist sein Vater der Mann seiner Träume? Und wie wichtig ist Francis‘ Herkunft für sein eigenes Leben?

Die Samenbank der Genies

Benedict Wells‘ Roman Fast genial thematisiert das tatsächliche Schicksal eines Jungen, der durch die Samenbank der Genies gezeugt wurde. Im Jahr 1979 rief der US-Millionär Robert Clark Graham dieses Projekt ins Leben, um eine menschliche Elite heranzuzüchten und die Menschheit vor der – seiner Meinung nach – voranschreitenden Dummheit zu retten. Die Spender waren unter anderem Nobelpreisträger, Spitzensportler und Hochbegabte und sollten durch ihr Supersperma kleine Genies in die Welt setzen. Das Projekt stand bereits während seines Betriebs stark in der Kritik und wurde oft mit dem nationalsozialistischen Herrenrasse-Denken verglichen. Zudem funktionierte das Experiment weniger gut, als die Gründer es erwartet hatten. Während einige Kinder zwar einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten aufweisen, sind die meisten doch eher durchschnittlich begabt. Auch die Identität der Spender wurde nicht immer hundertprozentig überprüft. So befanden sich unter den Spendern auch kriminelle Hochstapler, die die Samenbank austricksten, mehrere Kinder in die Welt setzten und ahnungslose Familien betrugen. Zwei Jahre nach Grahams Tod im Jahr 1997 wurde die Samenbank 1999 geschlossen. Insgesamt hat sie mehr als 200 Kinder hervorgebracht.

Eine Reise der „Euphancholie“

Neben seinen Bestsellern Vom Ende der Einsamkeit und Hard Land ist Fast genial ein unterschätztes und ziemlich geniales Buch von Benedict Wells. Für diesen Roman hat er denselben Weg zurückgelegt wie Francis im Buch, um sich komplett in die Figuren hineinversetzen zu können. Beim Lesen merken die Leser*innen das sofort: die Bilder entstehen im Kopf, ohne dass es vielerlei Erklärungen bedarf. Die Figuren sind so facettenreich gemalt, dass sie sich mit jeder Seite mehr so anfühlen, als wären sie die eigenen Freunde. Auch seine persönlichen Gedankenkarusselle arbeitet Wells stets in seine Figuren ein und erweckt sie so zum Leben. Das Buch ist mitreißend, ohne es zu erzwingen – wir wollen einfach gemeinsam mit Francis diese außergewöhnliche Reise erleben und endlich seinen Vater kennenlernen. Der Plot ist, typisch für Benedict Wells, geprägt vom Wechsel zwischen Euphorie und Melancholie, Coming-of-Age-Gefühlen und den richtigen Fragen an das Leben.

Auch wenn der Schluss für mich zunächst eher enttäuschend war, gibt er im Nachhinein betrachtet Raum für die eigene Interpretation und vor allem die Frage, was eigentlich im Leben wirklich zählt. Und selbst wenn die Leser*innen sich diese Frage am Schluss nicht stellen wollen, bleibt es nach wie vor ein unglaublich spannendes Buch, das zum Nachdenken anregt und an sich fesselt.

Roman

Zürich: Diogenes, 2018

322 Seiten, 13 €

ISBN: 978-3-257-24198-3

Beitragsbild: Karl Fredrickson via Unsplash

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