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Das menschliche (Un-)reflexionsvermögen und was ich damit zu tun habe

Wer kennt es nicht, eine Diskussion läuft ganz anders als erwartet hat und ehe es zu spät ist stehen Aussagen im Raum, welche so nicht stehen gelassen werden können. Vor kurzem erging es mir so und deshalb versuchte ich mich in Selbstreflektion zu üben…

Ein Kommentar von Martin Svejkovsky 

Es ist ein Abend wie so oft, ich sitze in der WG-Küche und esse etwas. Mein Mitbewohner kocht und wir reden nebenbei über dieses und jenes. Auf der Couch sitzt ein Freund meines Mitbewohners, der sich immer mal wieder in das Gespräch einmischt, doch bald darauf wieder vom Smartphone-Licht eingeholt wird und sich ausklinkt. So geht es eine Weile, bis wir auf ein Thema kommen, zu dem jede*r eine Meinung hat: Dating. Wie geht „Mann“ beim ersten Date vor? Was sind sogenannte „red flags“? Worauf stehen Männer bei Frauen und andersherum? Das Smartphone-Licht scheint plötzlich gar nicht mehr so anziehend, alle haben eine Meinung und wenn nicht, so äußern sie sich trotzdem. Schneller als mir lieb ist landen wir in Pauschalisierungen, Übertreibungen und Alltagstheorien. Einer der Diskutanten stellt die Wichtigkeit von Selbstbewusstsein fest, der andere ergänzt, dass dieses ja vor allem bei Frauen weniger oft gegeben sei. Er fügt hinzu – wohlgemerkt als studierter Psychologe – Frauen seien ja schon rein genetisch bedingt viel emotionaler und dadurch instabiler als Männer.

Ich ziehe mich etwas aus dem Gespräch zurück, denke nach. Ist das wahr? Wie haben wir es noch in der Vorlesung zu Geschlechterforschung gelernt – gab es da tatsächlich einen biologischen Unterschied zwischen dem männlichen und weiblichen Gehirn? Ich gebe mir die Antwort selbst: Nein, ein Gehirn kann auf Grund seiner Struktur, Durchblutung oder anderen Eigenschaften keinem Geschlecht zugeordnet werden, da es wissenschaftlich gesehen heterogen ausgeprägt ist. Anders sieht es hingegen bei der Konstruktion von Geschlechtern aus. Wissenschaft, auch die Medizin findet seit je her unter jenen menschlichen Geschlechterkonstruktionen statt und wird durch sie beeinflusst. Allein die Annahme hinter der Frage, ob Frauen anders veranlagt sind als Männer ist ein Zeugnis eben jener Konstrukte. Dennoch wäre es auch falsch, eine generelle Gleichheit zwischen allen Geschlechtern herzustellen und jegliche hormonell bedingten Unterschiede zu leugnen. Sowohl der Gendermedizin als auch der Geschlechterforschung sollte mehr Aufmerksamkeit gelten. Dadurch könnte ein progressiver Diskurs ohne kulturell und sozial bedingte Vorzeichen möglich gemacht werden.

Doch ehe ich dem Freundmeine Gedanken zu seiner These entgegnen kann, bestätigt er sie bereits selbst: Diese weibliche Instabilität sei ja auch in Studien erkennbar, denn nicht ohne Grund sind deutlich mehr Frauen in psychologischer Behandlung als Männer. Und tatsächlich hat er Recht. Laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts liegt beispielsweise die Prävalenz der Depression bei Frauen um rund drei Prozentpunkte höher als die bei Männern, auch insgesamt befinden sich Frauen im Schnitt öfter in psychologischer Behandlung als Männer. Dies hat mit Sicherheit eine Vielzahl von Gründen, wobei auch geschlechterspezifische Unterschiede eine Rolle spielen, im Gehirn sind diese jedoch, wie bereits erwähnt, nicht gegeben. So besteht meiner Meinung nach kein Kausalzusammenhang zwischen einer, von meinem Freund diagnostizierten, scheinbar instabileren weiblichen Psyche und einer höheren Quote von Frauen in psychologischer Behandlung. Wie das so ist bei Diskussionen, fallen mir die besten Argumente leider immer erst im Nachhinein ein.

Im Gegensatz zu einer Ungleichheit des Gehirns ist die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in Österreich ein Fakt. In Österreich lag das Gender Pay Gap 2019 bei 19,9 Prozent. Frauen sind statistisch mehr von Armut, Ausgrenzung und Prekarität bedroht und jede fünfte Frau war seit ihrem 15. Lebensjahr bereits einmal körperlicher oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Wie sinnbildlich ist es da, dass sich drei Männer im Rahmen eines Gesprächs über Dating darüber unterhalten, warum es Frauen wohl öfter psychisch schlecht geht und dafür gar unwissenschaftliche Erklärungen in Anbetracht ziehen? Ich gestehe: Im Nachhinein schäme ich mich, Teil jener Küchendiskussion gewesen zu sein. Keiner von uns dreien hat es geschafft das eigene männliche Dominanzverhalten in Frage zu stellen und in einem über Jahrhunderte geschaffenen patriarchalen Gehabe den Grund für diese psychologische Ungerechtigkeit zu erkennen. Denn kann es nicht etwa sein, dass sich eine langfristige strukturelle Diskriminierung von Frauen in einer psychischen Extrembelastung und somit einem erhöhten Risiko psychischer Erkrankungen äußert? Nein, soweit reicht das Reflexionsvermögen vieler Menschen (noch) nicht. Doch jede Diskussion über die Ungleichheit von Geschlechtern muss unter ihren Machtverhältnissen betrachtet werden und solange sich Männer ihrer Dominanzhaltung nicht bewusst sind, können sie dieses Machtgefälle auch nicht problematisieren.

Anmerkung:
Dieser Text spiegelt meine Meinung wider, er ist die Betrachtung einer von mir subjektiv erlebten Situation und hat keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Die Diskussion fand aus einem heteronormativen Perspektive statt und ist alleine deshalb zu kritisieren. Somit soll der Text weder belehrend noch besserwisserisch wirken. Außerdem soll er auch nicht zeigen, wie ein Mann sich zu verhalten hat, wenn er als reflektiert oder „woke“ gelten will, viel eher will ich mit diesem Text mich und andere für die Reflexion der eigenen Stellung im gesellschaftlichen Dasein sensibilisieren.

Bild: Samuel Regan-Asante

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