Frank Wedekinds “Lulu” war als Stück selbst immer Gegenstand von Diskussion und Auslöser von Begeisterung und Empörung. Es wurde mehrmals verboten, umgeschrieben und war für die explizite Darstellung sexueller Inhalte verpönt. Die derzeit laufende Aufführung des Dramas in den Kammerspielen der Josefstadt in Wien stellt den Text des Autors selbst in Frage. Wie an den Pranger gestellt, steht das Werk mitten auf der Bühne. Die Figuren wehren sich gegen ihn, wollen aus dem Stück ausbrechen. Wenn die Schauspieler*innen in ihrer Rolle darauf zeigen, darin nachblättern, so setzt sich die Inszenierung in der Retrospektive mit Wedekind auseinander. Die Kritik am Stück und am Autor wird auf die Bühne geholt. Dabei entsteht der Eindruck, die Regie wolle mit Frank Wedekind über sein Stück streiten.
Die junge Frau Lulu wird nicht nur objektifiziert, bereits in der ersten Szene bewundern Dr. Schön und Maler Eduard Schwarz dessen Gemälde von ihr und differenzieren keinesfalls zwischen dem Objekt und der Person Lulu. Sie selbst bedauert später, nicht für einige Zeit ihre Schönheit abgeben zu können, um ihrer Rolle zu entfliehen. So wählt sie die Flucht nach Paris und anschließend nach London, um erst einem Mordprozess, dann der Zwangsprostitution zu entgehen. Doch sie kann „Lulu” nicht ablegen, ebenso wenig ihre Wirkung auf ihr Umfeld. Das Bühnenbild zeigt schlangenartige Windungen, die sich wie Gedärme ausbreiten. Sie können als das Irren und Wirren ihres tragischen Lebens interpretiert werden und bringen Lulus Innenleben ans Licht. An mancher Stelle bunte Beleuchtung, an anderer tiefschwarze Verzweiflung externalisiert das Bühnenbild ihre Empfindungen.
„Lulu” handelt von der Zerrüttung zwischenmenschlicher Beziehungen. Diese bringt die käfigartigen Lebensumstände hervor, in denen die Menschen gefangen sind und bleiben. Lulu wird vor allen Dingen begehrt. Dr. Schön verheiratet und später heiratet er sie selbst, um sie, wie er behauptet, zu einer „anständigen Frau“ zu machen. Er stellt Ansprüche auf ihre Lebensführung, weil er sie mit zwölf Jahren aus der Prostitution rettete und zu seiner Liebhaberin erkor. Ihre langjährige Vertraute Gräfin Geschwitz darf ihre Liebe zu Lulu um die Jahrhundertwende nicht einmal öffentlich zum Ausdruck bringen. Alle Figuren sind ihr entweder völlig untergeben oder bedrohen sie. In Gestalt ihres missbräuchlichen Stiefvaters holt sie die Vergangenheit immer wieder ein, um sie zu verfolgen und zu erpressen. Das Stück beginnt auf dem Höhepunkt ihrer scheinbaren Freiheit, in der sie zum zweiten Mal heiratet, eine Romanze mit Dr. Schön unterhält, Gräfin Geschwitz als Unterhaltung duldet und in der oberen Schicht angekommen ist. Doch dieses Kartenhaus stürzt ein: Sie tötet Dr. Schön in – man könnte sagen – Selbstverteidigung, nachdem er sie zum Selbstmord verleiten wollte. Die Gräfin opfert sich durch ein falsches Geständnis und sitzt statt ihrer im Gefängnis, während Lulu flieht und immer tiefer in die Dunkelheit der Pariser Unterwelt hinabsteigt. Letztendlich stirbt sie durch die Hand von Jack the Ripper in London, der sie nicht nur wie die Übrigen besitzen möchte, sondern sich ihres Körpers vollständig bemächtigt.
Die Schauspieler überzeugen allesamt mit ihrer Darbietung. Das komplexe Innenleben Lulus wird von Johanna Mahaffy eindrucksvoll verkörpert und sie bringt in der Rolle Lulus Gehässigkeit, scheinbarer Naivität und bodenloser Verzweiflung zum Leben. Wenngleich die Darstellung in der ersten Hälfte des Stücks etwas überzeichnet erscheint, so trifft sie nach der Heirat mit Dr. Schön in jeder Szene ins Schwarze. Susa Meyer spielt Gräfin Geschwitz als eher ruhige und sensible Erscheinung, gerät jedoch zwischen den anderen Schauspieler*innen durch ihre starke Bühnenpräsenz nicht in den Hintergrund. Martin Niedermair interpretiert Schöns Sohn Alwa, wie auch den Maler Eduard Schwarz und Dr. Hilti in verschiedenen unterhaltsamen wie auch ernsten Tönen. Allesamt verfallen sie jedoch dem Charme Lulus. Joseph Lorenz erscheint als Dr. Franz Schön, Chevalier Casti-Piani und schließlich als Jack the Ripper. Diese stellt er jeweils auf komplett unterschiedliche Weise dar. Dr. Schön wandelt sich von dem Gönner und Liebhaber zu einem grausamen Mann, der sich in seinen Intrigen verheddert und zu Grunde geht. Auch brilliert er in den zwei anderen Rollen, und besonders als Jack the Ripper, der das Ende Lulus bringt, in seiner empathielosen Resolutheit. Der erste Ehemann Dr. Goll, der Stiefvater Schigolch und der schleimige Rodrigo werden von Michael König in seinem Spiel klar voneinander getrennt, wirken nie aufgesetzt und sind überzeugend.
In einer der kritischen Auseinandersetzungen im letzten Drittel der Aufführung erörtern Lulu und die Gräfin die Frage, ob sie des Liebens würdig sind. Kann man lieben und geliebt werden, wenn man ein Leben wie Lulu oder die Gräfin führt? Wenn man keine Liebe zu sich selbst spürt? Sie selbst kommen zu keiner Antwort, und doch sticht in dieser Stelle eine Botschaft für das Publikum heraus. Was Lulu in dieser Inszenierung glänzend verkörpert, ist ihr Kampf mit ihrer Rolle. Und besonders mit der Rechtfertigung, ob sie ihre Schicksalsschläge verdient – so wie Autor Wedekind sie ihr vorschreibt.
Das Publikum der Voraufführung am 27.11. zeigt sich in seinen Reaktionen stark polarisiert von der Frage, wie Theater – und besonders Regietheater – aufführen darf. Wenngleich nicht immer klar unterschieden werden kann zwischen Text des Autors und Kritik des Ensembles, so tut dies der Inszenierung keinen Abbruch. Schließlich sollen die Figuren „im Stück“ jene Worte und Handlungen hinterfragen, die Wedekind ihnen in den Mund legt. Es geht um eine Auseinandersetzung innerhalb des Stücks mit den Vorgaben, die von außen instruiert werden. Das Vorhaben, die Tragödie durch einen modernen Zugang aufzulockern, ist der Besetzung und der Regieführung gelungen. Lulu sagt in der Retrospektive auf ihr Leben, darüber bleibe nur mehr zu Lachen. Wenngleich man anfangs über diesen Satz stolpert, holt sich Lulu damit ihre Handlungsmacht zurück. Sie bestimmt ihr Narrativ.