Vor langer Zeit habe ich dich (einen Freund) verloren. Ich maß dem Ohne-dich-Sein keine große Bedeutung bei, denn dich (deine verschmitzte Stimme, diese eine deine Geste) zu Verlieren geschah still und ruhig. Hätte deine Abwesenheit (kein Schlüssel am Türstock, kein Kaffeekocherrauschen) später nicht schwer in unserer Wohnung gehangen – es wäre gewesen, als hätte ich dich nie verloren. Ich habe damals nicht gewusst, dass dein Verlust (ein Stuhl ohne Gegenüber, ein Fragen ohne Antwort) mich noch lange beschäftigen würde.
Der Morgen deines Abschieds (die Auffahrt ohne Auto, der Obstkorb, dem zwei Äpfel fehlten) fiel auf den ersten Frühlingstag. In diesem Jahr hatte sich der Winter in unendliche Längen gezogen und wir (drei Fotoalben, ein Geschirrservice) konnten einander kaum mehr ertragen. Früher oder später, so (abrupt) oder ein wenig anders (qualvoll) – es hatte passieren müssen. Wir vermochten über nichts mehr zu sprechen und der April wehte mich aus deinem Kopf (wohlgeformt, ein schöner Blick). Deine Welt dehnte sich aus. Nicht länger flohst du (eine Illusion?) vor der Kälte in die vier Wände, die wir teilten.
Dein Brief las sich ungefähr wie folgt: Der Frühling verändert die Menschen (dich). Deine Wärme verspricht keinen Trost mehr, sie wird heißer, so als hätte ich (ein freier Mann) zu lange am Lagerfeuer gesessen, so, als kratze Rauch (dein Duft) in Augen und Hals. Du, für die ich den Winter erlitten habe, bist jetzt der Überfluss, ein Teil des Zuviels, und ich (meine verschmitzte Stimme, diese eine meine Geste) sucht etwas (wen) anderes.
Du warst nach Wien gegangen. Du bestauntest nun Monumente (eine Frau, die du gerade getroffen hattest) und genossest deine neu gewonnene Freiheit (keine Stromrechnung, kein Pfingsturlaub), die frischer Frühling und neue Freundin dir (Betrüger!) gaben. Nichts unterschied deine Worte von einem Faustschlag, der mir (ein Wrack) die Luft zum Atmen nahm. Dann irgendwann: Es half zu glauben, dass nichts (nicht einmal du) in dieser Welt jemals wirklich verloren gehen konnte. Diese Erde hatte kein Ende, kannte keine Kante, niemand (nicht einmal du) würde fallen und nicht wieder aufprallen.
Ich verstand: Man (ich) konnte (dich) nicht verlieren. Ich (ein dich liebender Blick, ein dich neckender Mund) würde dich (ein verschwindender Körper, eine leise Idee) in einem anderen Menschen wiederfinden, vielleicht. Bis dahin würde ich mich im Verlieren üben.
Die Villanelle „One Art“ von Elisabeth Bishop behandelt das Thema Verlust. Darin setzt sich das lyrische Ich mit dem Verlieren von unwichtigen Gegenständen sowie Wertvollem auseinander und ruft schließlich dazu auf, sich in der Kunst des Verlierens zu üben: Denn zu verlieren ist Teil des Lebens. Dieser Text ist von Elisabeth Bishops Gedicht inspiriert und im Rahmen des Kurses „Kreatives Schreiben“ an der Universität Innsbruck entstanden.