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Das Kellerabteil

Die abgelutschten Steintreppen erfüllen ihren Zweck: ein menschliches Wesen kann weiterhin auf ihnen stolzieren. Auf und ab und auf und ab. Körperliche Bewegung ist gesund, haben sie draußen immer gesagt – Bewegung und Sonnenlicht… wenigstens noch Bewegung.

Aber eines verstehe ich nicht: wozu wächst ein Bart endlos? Soll ich vielleicht mein Glied damit erhängen können? Vielleicht die sexuelle Sünde damit bereinigen? Jaja, darüber haben sie dort oben immer gefaselt. „Sünde, Sünde!“ schrien sie und ich nur: „Tiefer, tiefer!“

Hier unten funktioniert das „tiefer“ nicht so gut. Das splittrige Holz ist ja wirklich nicht dazu geeignet. Jedenfalls zurück zu meinem Bart. Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis ich etwas anderes damit erhängen kann. Obwohl sein Kopf doch recht klein ist und sein Hals um einiges schmaler als bei einem erwachsenen Wesen. Die Werkzeuge hier unten wären natürlich perfekt geeignet, um die 5-6 Liter Blut aus ihm rauszuholen, doch ich finde, jemanden erhängen ist um einiges ästhetischer und zudem sauberer.

Er schaut so hilflos aus, wie er da kauert. Hehe! Ich weiß aber, wer er ist! Das können sie mir nicht ausreden! Was soll er denn sonst hier getrieben haben? Schon lange gibt es hier keine Menschen mehr. Schon seit der Zeit, als mein Bart gar nicht wuchs. Und jetzt soll er einfach hier gelandet sein? Einfach von oben runter, nicht wahr?
Hah! Nicht mit mir! Sie können meinen, was sie wollen, aber ich halte mich körperlich und geistig in solider Form! Schau dir nur mal diese abgelutschten Treppen an! Diese triefend eisigen Dinger, ganze siebzehn Stufen, da staunst du, ne?

Jedenfalls hat mich der Knall damals geweckt. Ich stahl mich leise von meinem liebsten Schlaffleck davon und kroch in Richtung der Treppe. Da sah ich dieses kleine, trügerische, hinterlistige, widerliche, lügnerische, dreckige, kleine Wesen einfach runter stolzieren. Natürlich sah es mich nicht. Hier unten gabs noch nie Licht. Es roch nach Fleisch und Spaß und in mir regte sich etwas, das sie dort oben gar nicht mögen. 

Und nun liegt er also da. So schwach, so roh, ein echter Mensch! Gedulden wird er sich müssen, doch der Tod kommt schon auch zu ihm, denn der Tod ist unser bester Freund. Er wartet geduldig und wenn wir noch leben, sagt er: „Geh!“ Und wenn wir nicht mehr können, dann sagt er: „Komm!“ 

Dieses kauernde Nichts wird seinen besten Freund bald wieder sehn. Ich meinerseits, verweile noch ein wenig und diese Treppen werden bei mir bleiben, diese triefend eisigen Dinger, ganze siebzehn Stufen, da staunst du, ne?

© Lisa Gratl

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