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Wenn Freiheit wie Porzellan zerbricht…

Rezension von: Das Porzellanzimmer

Ich fühle mich stumm.

Der Himmel pulsiert weiter, und die Materie geht ihren unpersönlichen Geschäften nach: Planeten kollidieren, Galaxien fliegen auseinander, schwarze Löcher, so groß wie Dutzend Sonnen, kreisen mit solch phänomenaler Wucht, dass die Wirkung erst in Millionen von Jahren wahrgenommen wird (…)

Auf der letzten Seite des Buches ist ein Bild zu sehen: Eine Frau mit weißen Haaren hält ein schreiendes Kind im Arm. Ich schließe das Buch und fühle mich stumm.

Ein junger Mann, noch nicht zwanzig, kommt nach Indien zu seinem Onkel, der ihn auf seiner verlassenen Farm irgendwo im nirgendwo leben lässt. Der junge Mann renoviert die Farm, wird dort gesund. Und erfährt dort Fetzen aus dem Leben seiner Großmutter Mehar, die vor Jahren ihr Leben auf der Farm verbracht hat.

Mehar wird als Kind einem Mann versprochen, den sie nicht kennt. Auch zehn Jahre später, als sie als fünfzehnjährige in den Hauskomplex seiner Familie zieht, weiß sie nicht, wer der Mann ist, für den sie sich nachts entkleiden muss. Sie erkennt in der Dunkelheit nicht, welcher der drei Brüder, die sie durch ihren Schleier beobachten kann, ihr Mann ist. Bis einer der Männer sie eines Tages in der Helligkeit auffordert mit ihr zu kommen. Dass dieser Mann nicht ihrer ist, wird ihr zufällig klar.

Es beginnt eine heimliche Liebesgeschichte, in der Mehar aufblüht. Leise Treffen, geheime Zeichen, intensive Gefühle aber vor allem auch große Angst. Wenn ihre Liebe öffentlich wird, wird Mehar gedemütigt, getötet. Und so planen die Beiden ihre Flucht.

Ihm würde nichts passieren, seine Rolle würde heruntergespielt, vielleicht sogar gnädig entschuldigt werden. Männer haben nun mal Bedürfnisse. Aber für sie wäre das Leben vorbei. Sie kann sich schon selbst sehen: der Kopf geschoren, die Brüste entblößt, der Eisenring um ihren Hals und den groben Strick, an dem sie durchs Dorf gezogen wird. S. 157

Dass ihre Beziehung der gewaltvollen Mutter der Brüder bekannt ist, ja sogar dem Ehemann , wissen die Beiden nicht. Ebenso wenig wissen sie, dass es Pläne gibt, die Flucht zu verhindern. Und so bricht das Buch mir das Herz, macht mich wütend und unzufrieden. Auf ein Happy End warte ich bis zur letzten Seite. Dass diese Seite Mehar als alte Frau mit ihrem Enkel im Arm zeigt, ist schön. Die Tränen, die mir in die Augen steigen, sind aber keine Freudentränen.

Auf zwei Erzählebenen erfahren Leser*innen einerseits Teile der Geschichte von Mehar, andererseits Fragmente aus dem Leben ihres Enkels, eines Ich-Erzählers. So tauchen wir ein in zwei Welten – in ein Indien der Gegenwart und eines der Vergangenheit. Die zwei Welten erscheinen so anders und doch verbindet sie ein Ort, eine kleine Farm und: Das Porzellanzimmer.

Mit poetischer, malerischer Sprache zeichnet Sunjeev Sahota zwei Leben nach, füllt die Seiten mit Witz, Gesellschaftskritik und Schmerz. Er beschreibt so sanft das Alltägliche, das die Leser*innen einsaugt und nicht wieder loslässt. Ein Buch, das so ehrlich ist, dass es Hoffnung macht und gleichzeitig alle Hoffnung zerstört.

Das Porzellanzimmer

Sunjeev Sahota

Hanserblau

237 Seiten

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