Die Augen meiner Mutter füllten sich mit Tränen. Meine Schwester verzog weiterhin keine Miene. Ich saß auf meinem Stuhl, starrte stumm auf den Tisch und schwenkte mein Weinglas. Unser Mädelsabend ist in einer derart trüben Stimmung geendet, weil meine Mutter einsehen musste, dass meine Schwester ihr niemals Enkelkinder schenken würde. Sie hat uns damals nämlich mitgeteilt, dass sie nach langer Suche endlich einen Arzt gefunden hatte, der sie im Alter von 27 Jahren sterilisieren würde.
Mittlerweile hat meine Schwester einen festen OP-Termin. In genau fünf Tagen muss sie sich nie wieder Sorgen um Verhütung machen oder einen Schwangerschaftstest kaufen. Als sie vor einigen Jahren zum ersten Mal verkündete, dass sie mit dem Gedanken spielt, sich operativ unfruchtbar machen zu lassen, hat mich das nicht sonderlich gewundert. Sie ist nicht wirklich die Art von Mensch, der langjährige Beziehungen führt oder über Heirat und Familie nachdenkt. Babys und Kleinkinder haben sie noch nie beeindruckt. Jedoch kann meine Mutter ihre Entscheidung absolut nicht nachvollziehen. Mein Bruder und ich wollen auch keine Kinder bekommen. Mittlerweile versuchen wir, das Thema zu meiden, aber wenn wir unsere Ansichten dann doch einmal äußeren, wird unsere Mutter traurig, schüttelt den Kopf und stellt jedes Mal die Frage: „Was habe ich falsch gemacht, dass meine Kinder keine Kinder haben möchten?“
Ab und an kommt es mir so vor, als ob wir als Kinder unseren Eltern Enkelkinder schulden würden. Dieses Gefühl beschleicht mich auf jeden Fall immer dann, wenn meine Mutter meint, es könne ja nicht sein, dass sie drei Kinder zu Welt gebracht hat und nun trotzdem höchstwahrscheinlich nie Enkelkinder haben wird. Aber meine Geschwister und ich bilden diesbezüglich absolut keine Ausnahme. Mit Anfang/Mitte zwanzig schleicht sich die Thematik des Kinder-Kriegens viel öfter in ein Gespräch ein, als mir eigentlich lieb ist. Und was ich daraus mitgenommen habe, ist, dass ich mittlerweile mit mehr Gleichaltrigen gesprochen habe, die ebenfalls keine Kinder kriegen möchten, als dass mein Gegenüber einen Kinderwunsch geäußert hat. An dem besagten verunglückten Mädelsabend hat meine Schwester meine Mutter gefragt, ob sie es denn lieber hätte, wenn meine Schwester einmal abtreiben müsste, anstatt sich einfach sterilisieren zu lassen, um dies vorzubeugen. Die Antwort meiner Mutter darauf war: „Na, Abtreiben finde ich ja auch krass.“ Oh Mama, wenn du wüsstest.
Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wo ich war und was ich gemacht habe, als eine meiner Freundinnen vor fast fünf Jahren in unsere Mädelsgruppe auf Messenger geschrieben hat, dass sie beim Frauenarzt war und die Ultraschalluntersuchung ergeben hat, dass sie schwanger ist. Mein Herz fing an zu rasen. Das konnte doch nicht wahr sein, das passiert doch nur im Film! Mittlerweile habe ich gelernt, das passiert viel häufiger als gedacht. Mit Anfang zwanzig sind wir nun mal auf unserem fruchtbaren Höhepunkt. Das kleinste Hoppla kann schnell zu einer Schwangerschaft führen. Kein Verhütungsmittel ist zu 100% sicher. Meine Freundin hat damals mit der Pille abgetrieben. Fast zwei Jahre später habe auch ich einen positiven Schwangerschaftstest in den Händen gehalten. Die Schwangerschaft nicht abzubrechen, stand zu keiner Sekunde zur Debatte. Ich kenne eine Handvoll Mädchen, die auch abgetrieben haben. Wahrscheinlich kenne ich sogar noch mehr, sie haben mir dieses Detail über ihr Leben nur nie preisgegeben. Und genau da liegt das Problem: Dass es sich bei Schwangerschaftsabbrüchen immer noch um ein Tabuthema handelt.
Meine Freundin kannte damals kein anderes Mädchen, das auch schon einmal abgetrieben hatte. Sie konnte mit keiner Person reden, die genau wusste, wie es ihr geht und was sie durchmacht. Ein großes Argument der Lebensrechtsbewegung („Pro-Life“), welche sich radikal gegen Schwangerschaftsabbrüche richtet, ist, dass Abtreibungen fast immer in Depressionen enden würden. Ich aber bin mir sicher, dass Frauen keine oder mindestens viel weniger mentale Belastungen erfahren, sobald Abtreibungen weniger verteufelt werden und sich aufgrund dessen mehr Personen trauen, von ihren Schwangerschaftsabbrüchen zu erzählen. Die Thematik würde normalisiert werden und keine Frau würde sich mehr schämen und allein oder schuldig fühlen, wenn sie eine Schwangerschaft abbricht. „Pro-Choice“-Demonstrationen wie die am 14. Jänner diesen Jahres in Innsbruck zeugen von unglaublicher Bedeutung, um auf Schwangerschaftsabbrüche aufmerksam zu machen und das Thema zu enttabuisieren.
In Österreich sind Abtreibungen bereits seit 1975 legal und innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft problemlos möglich. Leider gibt es noch viel zu viele Länder, auch in Europa, in denen Schwangerschaftsabbrüche noch strafbar sind oder es trotz der Legalisierung eine große Bandbreite an Einschränkungen gibt, welche einen Abbruch erschweren. Im Juli letzten Jahres wurde der Paragraf 219a des deutschen Strafgesetzbuches abgeschafft. Dieser besagte, dass Ärzt*innen auf ihren Webseiten nicht angeben durften, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, weil dies als Werbung für Abtreibungen galt. Jedoch ist der Paragraf 218 noch immer in Kraft, was bedeutet, dass Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland zuletzt illegal und nur in bestimmten Situationen straffrei sind. In Spanien, wo Abtreibungen seit Mai letzten Jahres ab 16 Jahren legal sind, forderte die rechtsextreme Partei Vox zu Beginn diesen Jahres, dass sich Frauen vor ihrem Schwangerschaftsabbruch die Herztöne des Fötus‘ anhören müssen. Der Standard berichtete am 31. Jänner dass in Polen, wo Abtreibungen wie in Deutschland nur in ganz wenigen Sonderfällen straffrei sind, Ärzt*innen im Osten des Landes einem 14-jährigen Mädchen, das zum Opfer von sexuellem Missbrauch innerhalb der Familie wurde, eine Abtreibung verweigerten. Das Mädchen musste für einen Schwangerschaftsabbruch nach Warschau reisen.
Ich sage nicht, dass jede Person, die abgetrieben hat, dies herausposaunen und ihren Schwangerschaftsabbruch sämtlichen Menschen, die ihr über den Weg laufen, unter die Nase reiben soll. Es ist und bleibt eine äußerst persönliche Sache. Aber falls das Thema Verhütung oder Abtreibung zufällig in einem Safe-Space angeschnitten wird, warum nicht von den eigenen Erfahrungen berichten? Warum nicht anderen Menschen vermitteln, dass es absolut in Ordnung ist, sich gegen eine Schwangerschaft zu entscheiden? Warum nicht anderen ein wenig Angst vor einer ungeplanten Schwangerschaft und einer Abtreibung nehmen?
Ich habe sehr lange darüber nachgedacht, ob ich in diesem Text meinen eigenen Schwangerschaftsabbruch erwähnen möchte. Es wäre jedoch ziemlich heuchlerisch, über die Notdringlichkeit von Kommunikation zu schreiben und gleichzeitig selbst zu schweigen. In einer Hinsicht muss ich jedoch heuchlerisch bleiben: Um meiner Mutter ein paar Tränen zu ersparen, habe ich ihr nichts davon erzählt und werde es wahrscheinlich auch nie tun.