Folge
Newsletter
Anmelden

Ein Prokrastinationstext

Ich sitze in einem Café und mache mir Gedanken über den Charakter und die Sorgen der Menschen um mir. Möchten sie angesprochen werden? Wann ist Hilfe angebracht? Philosophische Gedanken als Prokrastination.

Ich hangle mich von einem Wort zum nächsten, ein Kellner bleibt neben mir stehen, ich blicke auf und bestelle noch einen Kaffee. Mit ruhigen Fingern lege ich ein Lesezeichen zwischen die Zeilen und sehe mich um. Ein Raum voller Menschen und gespaltenen kleinen Teilwelten, in denen wir alternativ ein zweites zu Hause finden, seit wir der Technikrevolution folgten und uns nicht mehr von ihrer Praktikabilität trennen wollten. Ich sehe eine Frau, die mit einem Bein wippend allein an ihrem Tisch sitzt und nervös mit den Fingern klopft. Ihre Augenringe sprechen Bände und ihre Miene wirkt verkrampft, während sie starr aus dem Fenster blickt.

Einem Impuls folgend versuche ich die Situation zu interpretieren. Doch es gibt so viele Möglichkeiten und noch so viel mehr, seit ich mir der verschiedenen Einflüsse auf das Verhalten anderer wirklich bewusst geworden bin. Es könnte sein, dass sie auf ihr Date wartet und Angst davor hat, versetzt zu werden. Sie könnte eine schlimme Zeit hinter sich haben, die schlaflosen Nächte sind ihr schließlich ins Gesicht geschrieben. Vielleicht ist ihr aber gerade nur eingefallen, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hat.

Ach ja- mein Blick fällt auf meine Tasche, in der mein Statistikbuch auf mich wartet. Ich bin mir sicher, wenn Bücher reden könnten, würde es mich jetzt leise verhöhnen. Seit einer Stunde sitze ich hier zum „Lernen“ und lese Charles Dickens -David Copperfield-. Doch meine Gedanken wandern zurück zu der Frau am übernächsten Tisch. Mein Gefühl sagt mir, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist.

Ich war schon immer komplett fasziniert davon, den Charakter von jemand anderem durch verschiedene Persönlichkeitsmodelle herzuleiten, sich selbst in seitenlangen Beschreibungen wiederzufinden oder in der eigenen Obsession endlich herauszufinden, welche Brotsorte man eigentlich ist. Die Möglichkeiten, das eigene Wissen zu erweitern, sind endlos. Ich war gefühlt schon auf jeder Seite, die mir auch nur einen Funken über mich selbst sagen konnte. Dann kam das Psychologiestudium und ließ mich mit dem steigenden Wissensgehalt etwas verlorener zurück als ich dachte.

Ich würde gerne nachfragen, ob alles in Ordnung ist, auch wenn es sich mit den gesellschaftlichen Normen beißt. Ich lasse meine Finger über den Buchdeckel gleiten. Unentschlossen sehe ich zwischen meiner leeren Kaffeetasse und der Kundin hin und her.

Ich erinnere mich an eine Szene am Bahnhof. Ein Rollstuhlfahrer hatte dort gestanden und ein Mann wollte ihm Kleingeld geben. Daraufhin begann der Rollstuhlfahrer ihn lautstark zu beschimpfen und warf ihm das Geld nach. Die Szene bleibt bis heute ungelöst für mich. Entweder ein Missverständnis oder der Versuch zu helfen, wo keine Hilfe erwünscht ist. Mitunter vielleicht ein Grund, warum Menschen nicht helfen – die Angst davor, trotz allem falsch zu handeln? Ich würde gerne die Frau am Nebentisch fragen, bin mir aber nicht sicher, ob sie zu philosophischen Gesprächen aufgelegt ist.

Vergleiche aus meinen Lieblingsbüchern drängen sich dazwischen. Tugendhaftes Handeln, den Mut aufbringen zu handeln- ohne das, hätten die meisten Geschichten wahrscheinlich bereits nach den ersten Kapiteln geendet.

Inzwischen steht vor mir ein neuer Kaffee und ich sitze seit fast zehn Minuten dort in Gedanken versunken, ohne etwas zu tun. Aber ich will nicht so sein. Ich will nach meiner Tasche greifen und mich zu der Frau an den Nebentisch setzen, als sie genau in dem Moment dem Kellner winkt, zahlt und daraufhin das Lokal verlässt. Verdattert sitze ich dort, unsicher, womit ich gerade meine Zeit verbracht habe.

Ich will nicht, dass meine Geschichte nach den ersten Kapiteln versiegt und die Protagonistin mit eingezogenem Kopf in ihrer Unfähigkeit zu handeln verharrt. In der Literatur fand ich in meinem Leben so viel mehr Wärme, so viel Erklärungen und Zuflucht als irgendwo anders sonst und doch sind es nur Buchstaben aneinandergereiht von fremden Händen. Sie begleiten mich, aber eigentlich sollte ich auch nach ihnen leben. Weitere Gedanken an Diskussionen, in denen ich meine Stimme nicht erhob, obwohl ich etwas zu sagen hatte, in denen ich dachte, ich könnte nicht den ganzen Hörsaal ausfüllen, mich zurückgehalten und Ausreden gefunden habe. Sobald man beginnt zu warten hört man nicht mehr damit auf.

Trotz meiner neujahrsvorsatzverweigernden Tendenzen sehe ich sehr klar, woran ich im folgenden Jahr arbeiten werde. Ich schüttle den Kopf und greife nach meinem Statistikbuch.

Titelbild: Sara Westermann

Total
0
Shares
Vorheriger Artikel

Neue Rechte im Märchenland – der Anastasianismus

Nächster Artikel

Rattenschwanz

Verwandte Artikel