Lügen über meine Mutter heißt der neue Roman von Daniela Dröscher, der in einer Art Autobiografie das Leben der jungen Autorin mit ihrer Mutter aufarbeitet. Die Mutter – psychisch misshandelt von ihrem Ehemann, ihr Kind Ela, die alles miterlebt und internalisiert. Ein Buch, nicht flüssig zu lesen, nicht reißerisch oder durch poetische Sprache beeindruckend, sondern durch die furchtbare Ehrlichkeit, den großen Schmerz und die unendliche Liebe und Stärke einer Mutter nicht aus der Hand zu legen.
Der Roman beginnt in einer Gegenwart, in der Mutter und Tochter ehrliche und lange Gespräche führen und springt dann in die Vergangenheit, beginnend mit dem Jahr 1983. Die Geschichte begleitet die Protagonistinnen, Ela und ihre Mutter immer in der Perspektive von Ela, unterbrochen von Gegenwartssprüngen bis ins Jahr 1986. In dieser Zeit ist die Ein-Kind-Familie vielen Herausforderungen ausgesetzt, deren Quelle ist zumeist der Vater oft auch die Großfamilie und schwierige Arbeitsverhältnisse. Der Vater, und diese Vorstellung ist das Leitbild des ganzen Buches, findet die Mutter zu dick. Allem, was in seinem Leben passiert, gibt er dem Gewicht der Mutter Schuld.
Die Beförderung könne er sich abschminken, das sei ihm heute klar geworden. Ein Mann ohne vorzeigbare Frau würde eine solch gehobene Stellung niemals bekommen. (…) „Guck dich doch an“, sagte mein Vater scharf. „Wie du schon wieder aussiehst.“ (…) „Kein Wunder“, sagte er, „dass du keine Diät durchhältst. Du hast einfach keinen Biss.“
S.65
Die Mutter wehrt sich vehement, sie ist stur, gibt ihrem Mann, solange sie kann Konter. Wiederholte Male bricht ihre Kraft ein und sie beginnt, von den Hasskommentaren des Vaters überwältigt, eine neue Diät. Immer mit der Folge, dass sie danach mehr wiegt als davor. Ela schildert das Familienleben aus ihrer Sicht. Mit der Zeit übernimmt sie die Sichtweisen des Vaters und projiziert dessen Abneigung auf sich. Sie beginnt sich für Ihre Mutter zu schämen, entwickelt eine verzerrte Körperwahrnehmung und unterzieht sich selbst einer Diät.
Die Mutter aber ist eine bewundernswerte Frau. Sie will arbeiten, will weitere Ausbildungen abschließen, hat unglaublich gutes handwerkliches Geschick und ist so liebevoll wie keine andere Person im Roman. Sie ist für alle Menschen in ihrer Umgebung da, nimmt ein fremdes Kind auf, das zu Hause misshandelt wird, kümmert sich rührend um ihre demente Mutter und verschenkt großzügig ihr Erbe. Alles Versuche, ihren Wert unabhängig von ihrem Gewicht zu machen. Irgendwie gehen aber die meisten ihrer Herzensangelegenheiten schief oder werden ihr weggenommen. Ihr werden alle Chancen genommen, ihr Leben unabhängig von den Anfeindungen ihres Mannes selbstbestimmt zu leben. Sie wird von ihm und von Ihrer Umgebung darauf reduziert, dick zu sein. Sie wird ausgenutzt als Ehefrau, Pflegekraft und Erbin.
Es bricht einem*r das Herz, das Buch zu lesen. Der Schmerz der Mutter wird zu dem der Leser*innen, es ist förmlich spürbar, wie der ganze Körper aufgrund der Gewalt, die der Mutter angetan wird, weh tut.
„Ich hab ihm versucht zu erklären, dass eine Essstörung immer systemisch betrachtet werden muss. Dass auch der Partner einen erheblichen Anteil hat an einer solchen Veränderung. (…) Er hat gesagt: ‚Du bist die Kranke. Nicht ich. Ich esse ja nicht für dich‘ (…). Erinnerst du dich, wie oft er gesagt hat, ich wäre ‚krank‘ im Kopf? (…) ‚Fett und schizophren‘. Das hat er gesagt.“
S. 397
Die Seiten, die die Geschichten aus der Vergangenheit unterbrechen, bestehen aus Gesprächen mit der Mutter und den Erkenntnissen der Autorin. Sie sind gefüllt mit feministischen Gedanken, Kapitalismuskritik und Umweltaktivismus. Diese Gegenwartssprünge sind hilfreich, sanft und spenden Hoffnung, ermöglichen ein Durchatmen. Sie lassen das Erzählte nicht einfach so stehen, sondern kritisieren es, betten es in gesellschaftliche Kontexte ein und erklären es in Bezug auf die systematische Unterdrückung von Frauen.
Kein Buch ist so wie Lügen über meine Mutter. Es beleuchtet Körperkritik auf so vielen verschiedenen Ebenen, tut unendlich weh und endet doch mit einem Happy End. Ein Ende, das vielleicht auch für Leser*innen eine Befreiung sein kann, wie es für die Mutter eine war.
Lügen über meine Mutter
Daniela Dröscher
Kiepenheuer & Witsch
448 Seiten
Erscheinungsdatum: 18.08.2022