Folge
Newsletter
Anmelden

JIN, JIYAN, AZADI – WOMEN, LIFE, FREEDOM

56 Tage sind vergangen seit dem gewaltsamen Tod der 22-jährigen Kurdin Jina Masha Amini, die im Zuge einer Festnahme wegen des Falschtragens ihres Kopftuches durch die iranische Moralpolizei getötet worden war. Die Proteste im ganzen Land sind noch lange nicht verebbt – im Gegenteil. Trotz der drohenden Gefahren und dem Druck der militärischen Sicherheitskräfte protestieren vor allem Jugendliche auf offener Straße für Freiheit, Menschenrechte und die Hoffnung auf Veränderung zum Guten. Angst, Wut, Trauer und Müdigkeit sind dabei lediglich nebensächliche Attribute auf dem Weg zum eigentlichen Ziel.

Demonstration vor der Annasäule

Der Herbstwind peitscht pfeifend durch meine Haare an diesem kalten Oktobermorgen, während leichter Nieselregen in unregelmäßigen Abständen auf den grauen Asphalt tropft. Ich stehe in einer Menge an schwarzgekleideten Menschen vor der Annasäule in Innsbruck – dicht gedrängt und leise abwartend. Die rot-weiß-grün schwenkenden Fahnen mit der gelben Sonne in der Mitte in den Händen der Umstehenden sehen aus wie ein bunter Farbklecks in einem ansonsten grauschwarzen Farbeimer. Aus den Lautsprechern neben mir dringt kurdische Musik, ein Mädchen drückt mir im Vorbeigehen einen Flyer in die Hand und lächelt mich kurz an. Seichte Regentropfen fallen auf das Geschriebene und verwischen die schwarze Tinte. Nach ein paar Minuten wird die Musik jäh unterbrochen und das Mädchen von gerade eben tritt ans Mikrofon. Es knackt kurz bevor ihre laute und kräftige Stimme über den Platz schallt: „Am 13.09.2022 wurde in Teheran die 22-jährige Kurdin Jina Masha Amini aus Saquez von der iranischen Moralpolizei mit der Begründung festgenommen, sie habe ihre Kopfbedeckung nicht wie vorgeschrieben getragen. Nachdem sie auf dem Polizeirevier stundenlang misshandelt und gefoltert wurde, starb sie an den Folgen.“

Wenn die Angst verebbt

Seit dem 16. September 2022 hat sich vieles im Iran verändert. Eine Welle an Protesten hat das Land überschwappt, ein Protest, der weitgehend von Frauen organisiert wurde. Student*innen und Schüler*innen sind es hauptsächlich, die auf den Straßen des Irans zu finden sind und die nicht mehr tatenlos zuschauen wollen, was in ihrem eigenen Land passiert. Sie alle eint die Wut und Trauer über das Geschehene – sie haben genug. Genug davon, dass ihnen vorgeschrieben wird, wie sie sich zu kleiden haben, genug davon, dass ein sichtbares Frauenhaar ein Todesurteil bedeuten kann, genug davon, unter einer repressiven Regierung wie jener unter dem Hardliner Ebrahim Raisi zu leben. „Ist es normal, dass in deinem eigenen Land so viele Gefahren auf dich lauern?“, fragt die 20-jährige Darya in einem Interview „Jugend im Iran: Wir Kinder des Iran riskieren unser Leben (2022)[1]“ mit der Zeit. „Wenn sie einem nichts mehr lassen, hast du vor allem Angst – bis es zu viel wird und du vor nichts mehr Angst hast.“

Und die Wut überhand nimmt

Die Frage nach der Angst ist auch eine, die ich an jenem regnerischen Nachmittag im Oktober meiner Cousine, die mit meiner Tante und meinem Onkel in Teheran lebt, stelle. Wir telefonieren über WhatsApp, noch bevor der Internetzugang am 21. September systematisch für die Bevölkerung lahmgelegt wurde. Seitdem höre ich nur noch sporadisch von ihr, manchmal spät am Abend, manchmal am Morgen, wann die Verbindung es gerade zulässt. Mit ihren Studienkolleg*innen ist sie vor allem an Protesten ausgehend von der Universität in Teheran beteiligt und versucht, so gut es geht, die Menschen zu mobilisieren. Ich frage sie nun, wie es ihr geht und ob sie Angst hat, vor dem, was gerade und was in Zukunft passieren könnte. Sie schweigt kurz.  „Ja und Nein. Ich hatte vor allem zu Beginn sehr große Angst und sie schlummert auch immer noch in mir, doch mittlerweile ist es mehr ein Gefühl von Wut, welches überhand nimmt. Wir können und dürfen uns davon nicht aufhalten lassen. Dafür ist zu viel passiert.“ Ich bewundere ihre Entschlossenheit und frage mich, wie ich mich wohl in ihrer Situation verhalten würde.

Zwischen vergossenem Blut und Parolen

Die Verschleierungspflicht wurde 1979 nach der islamischen Revolution im Iran zum ersten Mal eingeführt und seitdem wird Frauen bei Nichteinhaltung Gewalt angedroht. Dies hat in erster Linie nicht wirklich etwas mit der Religion zu tun, sondern wird vielmehr systematisch als Machtmittel zur Unterdrückung missbraucht. Doch davon will sich meine Cousine, wie viele andere junge Frauen im Iran, nicht länger einschüchtern lassen, selbst wenn dies bedeuten würde, mit dem eigenen Leben zu bezahlen. Es gehe dabei nicht nur um Frauenrechte und ein Einstehen gegen jegliche Form der Diskriminierung, sondern um einen gänzlichen Regimewechsel. „Im Grunde sind wir alle gegen das jetzige Regime“, erklärt mir mein Onkel mit einem Schulterzucken. „Bis auf die 5-10% natürlich, die von der Situation profitieren.“ Seit dem Beginn der Proteste sollen rund 314 Menschen auf der Straße getötet worden sein, so die iranische Menschenrechtsorganisation Human Rights Activists News Agency (HRANA). So geschah es auch mit der 16-jährigen Nika Shakarami, die am 20. September während der Proteste in Teheran verschwunden ist und schließlich, nach zehn Tagen, tot aufgefunden wurde. Ihr Gesicht und Körper zeugten von schwerer physischer Misshandlung, doch offiziellen Angaben zu Folge sei sie bei der Flucht „von einer Erhöhung gefallen“. Sie ist nur einer von zahllosen Fällen.

Das Gedenken der Toten

Seit dem Mord an Jina Masha Amini ist kein Tag vergangen, an dem es keine Proteste auf den Straßen gab. Die Stimmung ist angespannt. „Die Menschen sind diesmal wirklich entschlossen, etwas zu verändern“, meint mein Onkel. „Das hier ist anderes als alles andere zuvor.“ Natürlich gibt es immer noch sehr viele, die sich nicht auf die Straße trauen oder, aus anderen Gründen, nicht an Protesten teilnehmen wollen. Doch die zahlreichen Todesfälle der letzten Wochen treiben immer mehr Menschen aus ihren Häusern, was unter anderem auf eine iranische Tradition zurückzuführen ist, wo nach der Beerdigung einer geliebten Person sowohl am dritten, am siebten und am vierzigsten Tag des Todes ein Gedenken veranstaltet wird. Die normalerweise im Verwandtenkreise stattfindende Zeremonie hat sich nun mit der Protestbewegung auf die Straße verlagert und die trauernden Familien schließen sich den Protestierenden an.

Der Angriff auf Ektaban

Am Sonntag, dem 06. November haben die militärischen Sicherheitskräfte Ektaban angegriffen, den größten Wohnkomplex im Westen Teherans. Mit den knapp fünfzigtausend Anrainer*innen war dieses Viertel in den letzten sechs Wochen zum Zentrum der sogenannten „Nachtproteste“ geworden. Nachts versammeln sich die Bewohner*innen dabei typischerweise hinter den geöffneten Fenstern ihrer Häuser oder auf den Balkonen und rufen Parolen in die Nacht, wie beispielsweise „Freiheit, Freiheit“ oder „Das Ende ist hier, Diktator“. Auch meine Cousine wohnt in diesem Viertel und sowohl sie als auch mein Onkel und meine Tante beteiligen sich aktiv an den nächtlichen Protesten. Am Sonntag sei das Ganze dann durch militärisches Eingreifen unterbrochen worden und die Sicherheitskräfte hätten Tränengas gegen die Protestierenden eingesetzt und sowohl Fenster als auch Häuserwände beschossen. „Zahlreiche Menschen sind direkt vor mir verhaftet worden“, erzählt mir meine Cousine später, darunter auch einer ihrer Nachbarn, der nun als politischer Gefangener im Evin-Gefängnis festgehalten wird. Seit dem Tag der Verhaftung habe nun keiner mehr irgendetwas von ihm gehört.  Meine Cousine und ihre Freund*innen konnten glücklicherweise fliehen. Beim Weglaufen wurde sie jedoch von einer Kugel der umstehenden Polizist*innen getroffen – genau zwischen Schulterblatt und dem Rucksack, den sie sich übergeworfen hatte. Glücklicherweise war das Gewehr nicht mit echten Patronen geladen, sondern diente nur zum Schreckschuss, weshalb sie nicht ernsthaft verletzt wurde. Meine Cousine erzählt mir in einem kurzen Telefongespräch beim Mittagessen davon, gerade so, als wäre es nicht real gewesen. „Als ich verstanden habe, was gerade passiert ist, ist meine ganze Angst auf einen Schlag zurückkehrt“, meint sie. „Wobei ich es wahrscheinlich eher als Panik beschreiben sollte. Wir haben uns in einem Hauseingang versteckt und ich hatte das Gefühl, dass die Zeit einfach stehengeblieben ist. Blackout. Als wir schließlich verstanden haben, dass ich mich nicht schlimm verletzt habe, hat es sich so surreal angefühlt. Als wäre ich in einem Film.“

Was nach dem Protest bleibt

Ich muss an ihre Worte denken, während ich jetzt mit der Gruppe Menschen an der Annasäule vorbei in einem friedlichen Protest Richtung Bahnhof marschiere. Immer wieder rufen wir den Slogan „Jin, Jiyan, Azadi – Frauen, Leben, Freiheit“. Flyer werden zeitgleich an neugierige Passant*innen verteilt. Ein vorbeihastender Mann wirft das Stück Papier achtlos in den nächsten Mülleimer. Je länger wir laufen, desto kleiner wird unsere Gruppe. Mittlerweile haben nasse Regenschirme die bunten Fahnen ersetzt, weißer Dampf bildet sich beim Sprechen vor unseren Mündern. Alle frieren. Irgendwann wird der Marsch beendet und ich mache mich mit gemischten Gefühlen auf den Heimweg. Es fühlt sich seltsam an zu wissen, dass meine Cousine sich jeden Tag in Teheran auf der Straße in Lebensgefahr begibt, um für das gleiche zu protestieren, wofür ich gerade im Grunde auch auf die Straße gegangen bin. Es fühlt sich falsch an, einfach nach Hause laufen zu können, weil es kalt ist und nicht, weil ich um mein Leben fürchten muss. An der Weggabelung sehe ich den zusammengeknüllten Flyer, den der Mann gerade eben weggeworfen hat. Das Papier ist durchweicht und das Geschrieben schon längst nicht mehr sichtbar, doch ich stecke den Zettel trotz allem achtsam in meine Hosentasche. Was gerade im Iran passiert, geht uns alle etwas an. Nicht nur sollte dem Fakt, dass dieser Protest von jungen Frauen gestartet wurde, mehr Gewicht verliehen werden, sondern es gilt grundsätzlich mehr Licht auf die Situation im Iran zu werfen. Die dort herrschende menschenrechtswidrige Lage sollte uns alle betroffen fühlen lassen. Oder, wie es die schwedische Abgeordnete des europäischen Parlaments Abir Al-Sahlani während einer Versammlung ausgedrückt hat: „Until the Iran is free our fury should and will be bigger than the oppressors!“     


[1] Die Zeit (2022). Jugend im Iran: Wir Kinder des Iran riskieren unser Leben. https://www.zeit.de/zett/politik/2022-10/iran-jugend-kinder-alltag-perspektive (abgerufen: 10.11.2022)

Total
0
Shares
Vorheriger Artikel

Groß, größer, der große Gatsby

Nächster Artikel

Journalismus im Krisenmodus oder Krise im Journalismus

Verwandte Artikel