Jede*r von uns ist sich selbst beziehungsweise versteht sich als ein Ich. Und dass dieses Ich auch wirklich existiert, vielleicht sogar die einzig unanzweifelbare Existenz ist, hat René Descartes mit seiner Formel „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) gemeint zu demonstrieren. Es folgt eine Kurzgeschichte, die dieses Unterfangen in Szene setzt.
Das Frühstück
„Man kann so einiges anzweifeln, doch jeder Zweifel wie jede Gewissheit läuft auf ein Subjekt hinaus! Was ich auch immer für wahr oder richtig halte, kann unwahr oder falsch, oder gar gar nicht sein, doch in jedem Fall gibt es diese Instanz, die für wahr hält, und diese nennen Wir Ich.“ Dies warf ich meiner Mutter am Frühstückstisch manisch in den Kopf, noch bevor ich überhaupt gänzlich aus meinem Traum erwacht und in der Realität angekommen bin.
Und an dieser stillen Stelle trat die Fremdheit ein, die immer auf jene zuvor ausgesprochenen Gedanken folgt: Zwei Menschen, die sich einander anschauen und dasselbe denken: ‚Vielleicht existierst du gar nicht.‘ Meine Mutter war verwirrt von dem Umstand, dass ich es war, die Person, die eventuell gar nicht existiert, die ihr eben dies aufgetischt hat. Darüber hinaus hat ihr eigener Sohn, den sie selbst auf die Welt gebracht und aufgezogen hatte, ihr verdeutlicht, dass dessen Existenz gar nicht gewiss sei. Während dieses Denken in ihrem Ich vor sich ging, dachte ich mir: ‚Wieso erzähle ich ihr, von der ich zwar glaube, dass sie existiert (und meine Mutter ist), es aber nicht weiß, dass sie nicht gewiss existiert?‘ Das machte keinen Sinn.
Und plötzlich erinnerte ich mich an einen Traum der vorangegangenen Nacht. Wie es selten aber immer wieder mal passierte, erkannte ich auch in dieser Nacht, dass ich träume. In diesem luziden Traum traf ich an der Seite unseres Hauses meine Mutter (nicht meine wirkliche Mutter, sondern meine Traum-Mutter). Dieser unechten Traum-Mutter erzählte ich, dass ich wüsste, dass dies nur ein Traum war. An diesem Punkt des Traumes landete ich in demselben Loch wie am Frühstückstisch: ‚Wieso erzähle ich ihr, die gar nicht echt ist, dass dies alles hier nicht echt ist?‘
Nun am Frühstückstisch, wo sich mein Denken mit diesen beiden Fragmenten vermengte, biss sich die Schlange nicht mehr nur noch in den eigenen Schwanz, sondern auch der Schwanz biss sich in den Schwanz und vielleicht biss sich das Maul dieses Schwanzes sogar auf die Zunge.
Bei der Zigarette danach #1
Der Unterschied zwischen Traum und Wachwelt verschwand, als das Esszimmer von dieser Verwirrung durchflutet wurde. Ich wusste nicht genau, warum ich im Traum einer unechten Person, die nur Expression meiner Psyche war, erzählte, dass ich nun luzide bin. Ich weiß auch nicht, warum ich einer echten Person von meiner Erkenntnis beziehungsweise der von René Descartes (der auch nicht gewiss existierte), erzählte. Doch ich wusste, dass sich nun alles vermischt und verdreht hatte. Während nun meine echte Mutter potenziell unecht wurde, erschien mir meine unechte Traum-Mutter plötzlich viel echter, da sie Bestandteil meiner Psyche und nicht außerhalb von mir war.
Das Mittagessen
Meine potenziell unechte Mutter traf ich nun wieder am gedeckten Mittagstisch an, wie auch meinen potenziell unechten Bruder und meinen potenziell unechten Vater. Ich bedankte mich, dass sie gekocht hatte, denn es ist weder selbstverständlich, dass meine potenziell unechte Mutter Essen für mich bereitstellt, noch dass sie aus ihrer Sicht dies für ihren potenziell unechten Ehemann und ihre beiden potenziell unechten Söhne tut.
„Es tut mir leid, dass ich am Morgen deine Existenz angezweifelt habe.“, sagte ich daraufhin. Sie antwortete, dass es schon in Ordnung sei, da diese Gedanken auch für sie äußerst verführend waren. Für die Möglichkeit aber, dass wir existierten, wäre es von Nutzen, so zu tun, als wäre es so. Meine anzweifelbare Mutter hat mich auf die Welt gebracht, auf eine Welt, die ebenso anzweifelbar ist, wie es nun auch meine Geburt ist. Meine Geburt durch sie ist ungewiss. Dass ich das in diesem Moment denke und dadurch auch sein muss, ist aber gewiss. „An meine Geburt kann ich mich nicht erinnern, und selbst wenn ich es könnte, könnte ich dessen Wirklichkeit bezweifeln.“, sagte ich besorgt. „Ich kann mich an deine Geburt erinnern, ob sie wirklich war, kann ich aber nicht wissen. Doch ich bin mir sicher, dass ich mich daran erinnern kann, so wie ich mir sicher bin, dass ich gerade mit dir darüber rede, wobei die Realität von diesem Du im Ungewissen bleibt.“, sagte sie. „Das Etwas, das gewiss ist und ich Ich nenne, ist also aus der Ungewissheit entstanden.“, stellte ich fest. „Dass ich irgendwann sterben werde, ist auch anzweifelbar, also eine Rückkehr zur Ungewissheit.“, sagte ich.
„Es ist schon halb zwei“, stellte mein Bruder fest, der es schaffte, zurück aus der Zukunft zu kommen. „Ich meine: Ich lese an der Uhr die Zeit halb zwei ab. Ob es wirklich halb zwei ist, weiß ich nicht.“, korrigierte er sich selbst. „Auch wenn es nicht feststeht, dass ihr existiert…“, begann ich zu sagen, „…bin ich sehr froh darüber, dass ihr dennoch da seid.“
Die Zigarette danach #2
‚Das Bild meiner Mutter, das ich erlebe, ist echt. Ob meine Mutter selbst echt ist, weiß ich nicht. Muss ich das wissen? – Nein, das muss ich nicht wissen, es macht keinen Unterschied.‘ Ich schaute mich auf unserer bildschönen Terrasse um und begann durch unseren wohlgepflegten Garten zu gehen. Barfuß spürte ich das leicht feuchte Gras und – als könnte dieses traumartige WachSein nicht kitschiger sein – hörte ich die Vögel zwitschern. Die Vögel sah ich nicht, und wenn ich die Augen schloss, sah ich auch das Gras nicht mehr, auf dem ich stand. Ich nahm sie jeweils dennoch wahr. ‚Das Sehen der Augen ist vielleicht keine Wahrnehmung, sondern eine Falschnehmung, eine Verwechslung.‘
„Mach die Augen auf“, hörte ich plötzlich meinen Vater rufen, unmittelbar nach dem Öffnungsgeräusch der Terrassentür. Ich machte sie auf, während er die Tür wieder schloss. Anschließend zitierte er eine Stelle aus meinem Lieblingsfilm:
“Du bist dir selbst noch nicht begegnet, aber anderen in der Zwischenzeit zu begegnen hat den Vorteil, dass du dich in einem von ihnen wiedererkennen wirst. Überprüfe stets alles, was du beobachtest. Du könntest beispielsweise gerade eben über einen geträumten Parkplatz gehen. Und vielleicht sind das geträumte Füße, die in deinen geträumten Schuhen stecken, und du bist Teil deines eigenen Traums. Und somit kann der Mensch, der du in deinen Träumen zu sein scheinst, gar nicht der sein, der du tatsächlich bist. Es ist nur deine Vorstellung, ein mentales Modell.“ (Waking Life; Richard Linklater, 2001)
Obwohl ich nicht mit Schuhen auf einem Parkplatz, sondern barfuß im Gras stand, musste ich lachen, weil es eine der geistreichsten Szenen des Films ist und so gut zu den Umständen passte. Er stimmte auf mein Lachen ein und verkündete den Vorschlag, das Abendessen gemeinsam herzurichten.
Das Abendessen
Statt über die vorigen Gedanken und Geschehnisse weiter zu rätseln, fokussierten wir uns auf den Verzehr von Broten mit verschiedenen Käse- und Hummus-Sorten. Wir erzählten uns jeweils alle möglichen Inhalte unserer echten oder fiktiven Erlebniswelten, die uns durch Raum und Zeit begleiteten. Obwohl es ein aufregendes Unterfangen war, diagnostizierten wir den Solipsismus und den Außenwelt-Skeptizismus als überlebensunfähig und begruben sie beide nach dem Abendmahl neben René Descartes in unserem Garten, so dass sie kompostiert werden könnten.