Beim Internationalen Filmfestival Innsbruck (IFFI) geht es traditionell darum, den globalen Aspekt von Film aufzugreifen und zu betonen, indem Filme gezeigt werden, die im kommerziellen Mainstream-Kino wenig Repräsentation erfahren. Das facettenreiche Programm besteht aus Filmen unterschiedlicher Formate mit variierender Länge aus diversen Regionen des Globus. „Every star and every planet is in place but you, Planet Earth”, lautet das Motto der diesjährigen Ausgabe #31. Damit wird der Fokus auf die Entrücktheit der Welt gelegt, die in der letzten Zeit besonders deutlich zu werden scheint.
Um Entrücktheit geht es unter anderem auch in Jeanine Meerapfels beim IFFI gezeigten Film Una Mujer (2021). Für die 143 Minuten wählte die Regisseurin das Format des Essayfilms, um die Vergangenheit ihrer Mutter, Marie Louise Chatelaine (kurz: Malou), nachzuzeichnen. Ihre Geschichte ist eine des Zurechtkommens, der Migration, der Anpassung und des Scheiterns. Der Film folgt Malou, ausgehend von Frankreich nach Deutschland in die Niederlande und schließlich nach Argentinien, wo Jeanine Meerapfel geboren und aufgewachsen ist. An den diversen Orten des Filmdrehs, die gleichzeitig Orte des Lebens der Marie Louise waren, öffnen sich unvorhergesehen immer wieder Türen zur Reflexion, meist begünstigt durch gegenwärtige Umstände zur Zeit des Drehs. So zum Beispiel die Formgebung der Lichteinstrahlung in einem Innenhof oder die Lebensrealitäten der Bewohner:innen der Häuser, in denen Meerapfels Mutter einst lebte.
Una Mujer beginnt mit Aufnahmen des imposanten Wurzelwerks von Bäumen in einem Park in Buenos Aires. Die Rückverfolgung der Wurzeln nimmt die Regisseurin mit einem von ihr eingesprochenen Voice-Over auf, das die Zuschauer:innen über den gesamten Film hinweg begleitet. In diesem Fall spricht sie spanisch, es gibt den Film jedoch auch mit einem Voice-Over auf Englisch, Französisch und Deutsch – somit existieren vier Originalfassungen von Una Mujer, die übermittelten Gefühle in jeder etwas anders. Meerapfel spricht zu Beginn von dem Akt des Erinnerns um zu vergessen und davon, dass Chaos die Aussicht auf Ordnung birgt. Ordnung möchte sie durch die Erzählung der Geschichte von Marie Louise, durch die Kontextualisierung der Fragmente ihres Lebens schaffen.
Von ihren Eltern in ein Kinderheim gebracht, wurde Marie Louise Chatelaine von ihrer Tante aufgenommen, die hoffte, dadurch zu mehr Geld berechtigt zu sein und das Kind damit eigentlich nur als Mittel zum Zweck verstand. Etwas älter geworden traf Malou in Straßburg den jüdischen Kaufmann Carl Meerapfel, der ihr Gatte werden sollte. Sie folgte ihm nach Untergrombach, wo seine Familie im Tabakanbau tätig war. Carls Eltern nahmen Malou herzlich auf und schienen die Leerstelle zu füllen, die ihre eigenen Eltern hinterlassen hatten. Aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten gingen Marie Louise und Carl in die Niederlande und mussten von dort schließlich über Frankreich und Spanien nach Argentinien fliehen. Dort trennte Carl sich nach einiger Zeit von seiner Ehefrau, was nach zwei Rechtsstreits in der Aufteilung ihrer zwei Kinder auf je ein Elternteil und finanzieller Knappheit bei Marie Louise resultierte.
Die vielen Ortswechsel zeigen sich in der Kameraführung, oft fahrend, vorbei an Feldern und Flüssen wie der Saône oder Loire. Abwechselnd dazu ist das Bild wieder still, etwa wenn die Hand der Regisseurin zu sehen ist, wie sie eine schwarz-weiß Fotografie ihrer Mutter vor die bunte, lebendige Kulisse hält, wo sie entstanden ist. Diese Fotos beschreibt Meerapfel im Voice-Over als Reproduktionen, die die reale Erinnerung ersetzen.
Die Regisseurin charakterisiert ihre Mutter als klein, hübsch und blond mit einem Hang zur Melancholie. Meerapfel fragt sich in Anbetracht dessen, was Malou erleben musste, woher das Selbstbewusstsein, das sie auf ihren Fotos ausstrahlt, kommt. Jeanine Meerapfel zufolge war Marie Louise eine Imitationskünstlerin, die Sportarten wie Eislaufen oder Tennis allein durch Zuschauen erlernte. Diese Fähigkeit kann womöglich in Verbindung zu ihrem bewegten Leben gesehen werden. Carl Meerapfel wird demgegenüber als jemand beschrieben, der Frauen und Autos liebte.
Mit langen Aufnahmen von kleinen Details und weiten Landschaften öffnet Una Mujer die Möglichkeit zur Imagination und macht so sichtbar, was an einer Geschichte nicht gezeigt werden kann. Dieser Aspekt wird an einer Stelle im Voice-Over thematisiert: Zu sehen sind Schwalben, die in ihrem Flug so schnell die Richtung und Höhe ändern, dass sie unmöglich mit der Kamera einzufangen sind. Trotzdem wird es versucht, wegen des Drangs, zu sehen, zu verstehen, festzuhalten. Die Filmmusik besteht aus simplen Interpretationen von Kinderliedern, meist durch Instrumente wie die Blockflöte, die ineinander übergehen und immer wiederkehren. Sie erinnern an Kindheitserinnerungen, kreisend, und persönlicher Ausgangspunkt Meerapfels für diesen Film.
Titelbild: ©IFFI