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Wie zu Hause sein und mit Oma über früher reden – Buchrezension „Wir sind doch Schwestern“

Wir sind doch Schwestern ©GiuliaNeumeyer
Titelbild ©GiuliaNeumeyer

Der Tellemannshof in Wardt am Niederrhein, nordwestlich von Duisburg, ist für die drei Schwestern Gertrud, Paula und Katty Franken nicht nur der Treffpunkt zu Gertruds 100. Geburtstag. Er ist Schauplatz der Erinnerungen aus einem ganzen Jahrhundert. In Wir sind doch Schwestern verarbeitet Anne Gesthuysen das Leben ihrer drei Großtanten. Ein Roman basierend auf wahren Begebenheiten.

„Starker Kaffee ohne alles und jeden Tag um elf Uhr einen Schnaps.“

Diese Antwort hat Gertrud sich für den Journalisten zurechtgelegt, der sie zu ihrem Jubiläum für die örtliche Zeitung interviewen will. Doch in dem Roman geht es nicht darum, wie sie es geschafft hat, 100 Jahre alt zu werden. Es geht darum, was man in 100 Jahren erlebt. Der Geburtstag dient dem Buch dabei als Rahmenhandlung, um sich an längst vergangene Erlebnisse zu erinnern.

Drei Schwestern, drei Leben, ein Jahrhundert

Gertrud, die älteste der drei Schwestern, ist eine sehr selbstbestimmte Frau. Sie lernt in jungen Jahren Franz Hegmann kennen, die beiden verlieben sich ineinander. Doch die Verlobung der beiden, für die Franz Gertrud und ihre Familie zu sich nach Hause auf den Tellemannshof eingeladen hat, sollte unter keinem guten Stern stehen. Franz‘ älterer Bruder Heinrich, ein selbstbewusster und dominanter Mann, ist mit Gertruds Familienstand nicht einverstanden, denn ihre Familie ist nicht besonders wohlhabend. Franz widersetzt sich seinem Bruder, verlobt sich mit Gertrud und wird dafür bestraft: Heinrich schickt ihn vom Hof und damit auch in den Ersten Weltkrieg, den er nicht überlebt. Diese Nachricht bricht Gertrud das Herz. Für sie ist Heinrich schuld am Tod ihrer großen Liebe. Und der Tellemannshof weckt diese Erinnerung in ihr.

Paula, zwei Jahre jünger als Gertrud, hat dagegen einen Mann gefunden. Alles scheint perfekt, sie und Alfred bekommen zwei Töchter und haben ein enges Verhältnis. Doch Alfred hat ein Geheimnis: Er ist schwul. Es fällt ihm immer schwerer, seine Neigung, die zur damaligen Zeit streng verboten ist, zu unterdrücken. Ein dramatisches Ende ist vorbestimmt.

Katty ist mit 84 Jahren die jüngste der drei Schwestern. Ihre Geschichte ist eng verwoben mit der von Gertrud, denn der inzwischen verwitwete Heinrich Hegmann stellt Katty wenige Jahre nach Franz’ Tod als seine Hauswirtschafterin an. Gemeinsam überleben sie das Ende des Zweiten Weltkrieges, Heinrich macht politische Karriere, ist Gründungsmitglied der CDU, kennt alle namhaften Politiker der damaligen Zeit. Und Katty ist das, was wir heute als eine PR-Beraterin bezeichnen: Sie kümmert sich um Heinrichs Öffentlichkeitsarbeit. Sie ist charmant, extrovertiert, fröhlich und veranstaltet gern und oft Feste, bei denen sie nicht nur die Nachbarn, sondern unter anderem sogar Konrad Adenauer und Heinrich Lübke bewirtschaftet. All ihre gemeinsamen Erlebnisse und Erfolge schweißen Katty und Heinrich immer enger zusammen. Die beiden haben ein sehr vertrautes Verhältnis, so vertraut, dass im Dorf bereits über sie getratscht wird. Dennoch wurde zur damaligen Zeit immer noch sehr viel Wert auf den Familienstand gelegt und Katty entspricht, wie auch Gertrud damals, nicht dem Stand, den Heinrich für angemessen hält. Also sucht Katty eine neue Frau für Heinrich, die ihm einen Erben schenken soll und landet Hals über Kopf in einer Dreiecksbeziehung, die zu eskalieren droht.

Die Leser*innen fühlen sich wie ein Teil der Familie

Der Roman wechselt in seiner Erzählweise zwischen den Erinnerungen der Schwestern. Die ersten Kapitel scheinen wild durcheinander erzählt, so unterschiedlich sind die Leben der Protagonistinnen. Die Leser*innen fallen in die erste Geschichte hinein, dann in die zweite, dann in die dritte, dann wieder in die erste. Aber jedes Kapitel ist von Beginn an unglaublich mitreißend, mit jedem Satz werden wir mehr in die Erlebnisse der Frauen und in die Zustände damaliger Zeiten hineingezogen, wir erkennen die Zusammenhänge und die Verwobenheit der drei Leben. Wir bekommen das Gefühl, fast zum Teil der Geschichte, ja der Familie zu werden. Und das macht dieses Buch so besonders. Es ist wie zu Hause sein und mit Oma über früher reden.

Eine Familiengeschichte über starke Frauen

Wir sind doch Schwestern ist ein Roman über drei auf den ersten Blick vollkommen unterschiedliche Frauen. Aber was sie verbindet, ist mehr als nur dieselbe Familie. Es ist ein gemeinsames Merkmal: Stärke. Die Art von Stärke, von der wir jungen Frauen uns auch heute noch eine Scheibe abschneiden können. Selbstbestimmt wie Gertrud, loyal wie Paula und ehrgeizig wie Katty. Drei Schwestern, deren Leben alle auf unterschiedliche Weise nicht einfach waren und dennoch eng verwoben sind. Sie lebten in Zeiten, in denen Selbstverwirklichung für Frauen noch lange nicht den Stellenwert hatte, den er heute in unserer westlichen Welt hat. Und dennoch haben sie sich verwirklicht. Der Roman ist eine Hommage an die Generationen von Frauen vor uns und kann gleichzeitig eine Erinnerung an uns junge Frauen sein, unser Leben auszukosten, nicht alles zu ernst zu nehmen und an uns selbst zu glauben.

Anne Gesthuysen hat drei Jahre an diesem Buch geschrieben. Es ist ein Roman, keine Faktenerzählung. Dennoch sind die Ereignisse nicht erfunden, es sind Geschichten, die sich hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand innerhalb ihrer Familie erzählt wurden. Dass ihre Großtanten eine Geschichte wert waren, wusste die ehemalige ARD-Morgenmagazin-Moderatorin also schon früh. Nach dem Tod ihres Vaters 2007 bekam sie den alten Ordner in die Hände, den auch Katty zu Beginn des Buches findet. „Nicht lesen, nur verbrennen“ stand auf einem Zettel, der darauf klebte. Der Auslöser für das Buch, das 2012 zum Spiegel-Bestseller wurde. Das hätte den drei Schwestern wohl gefallen.

Roman.
München: Piper, 2012
416 Seiten, 9,99€
ISBN: 978-3-49230431-3

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